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Gemeinsame Wege führen weiter

Grußwort des Ministerpräsidenten

2013 findet in Baden-Württemberg zum ersten Mal ein landesweiter Suchtselbsthilfetag statt, über den ich gerne die Schirmherrschaft übernommen habe. Für mich ist das ein willkommener Anlass, die Arbeit derer, die sich seit langem für die Suchtselbsthilfe einsetzen, ausdrücklich zu würdigen. Ich danke ihnen für den wichtigen Einsatz, den sie leisten. Die Selbsthilfe ist ein starker Partner für alle, die von Sucht betroffen sind. Viele, die sich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen haben, erfahren Unterstützung und Begleitung auf ihrem Weg abstinent zu werden oder zu bleiben.

Ich begrüße es, dass der Selbsthilfegedanke in unserem Gesundheitssystem systematisch gefördert wird, und ich wünsche dem ersten Suchtselbsthilfetag in Baden-Württemberg viel Erfolg.

Winfried Kretschmann

Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg

 

Die BWAG stellt sich vor

Gemeinsame Wege führen weiter

Suchtselbsthilfe und Suchthilfe Partner im Versorgungssystem

 

Die BWAG stellt sich vor

Die Suchtselbsthilfe spricht heute mit einer Stimme. Doch wie war es dazu gekommen?

Vor ca. 22 Jahren hatten sich sieben Selbsthilfeverbände Baden-Württembergs zur BWAG zusammengeschlossen, zur „Baden-Württembergischen Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfe- und Abstinenzverbände“.

Am Anfang stand der Wunsch, als Selbsthilfe besser gehört zu werden. Dazu brauchte es den internen Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung.

Weiter bestand das Anliegen, in der Öffentlichkeit an der Bewusstseinsbildung zur Situation betroffener Menschen und Familien mitzuwirken.

Damals war die Welt der Suchthilfe noch einigermaßen „in Ordnung“, obwohl am Horizont der Kostenträger und Therapiekonzepte schon erste graue Wolken aufzogen. Doch zunächst ging die Alkoholtherapie noch sechs Monate – natürlich stationär – und die Medikamenten- und Drogentherapie neun Monate. Und in den Beratungsstellen und Kliniken wurden die Patienten darauf programmiert, nach Therapieende eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen oder – sollten sie keine finden – eben selbst eine zu gründen. Und diese Strategie hat bestens funktioniert.

Keine Sorge, wir bleiben in der guten alten Zeit nicht hängen, wir erliegen diesem wehmütigen Rückblick nur noch relativ selten. Und doch muss es ab und zu sein, denn dort liegen unsere Wurzeln. Von dort her leben wir und diese Prägung stabilisiert viele von uns bis heute.

Die Option einer ambulanten Reha war für die Selbsthilfe neu und zunächst schlicht und ergreifend indiskutabel – bis im Lauf der Jahre immer mehr Betroffene in die Gruppen kamen, die eben diese und andere neuere Therapiekonzepte durchlaufen hatten. Und damit wuchs die Akzeptanz auch innerhalb der Selbsthilfe.

Mit den Veränderungen in der Therapielandschaft erkannten wir zunehmend die Notwendigkeit, uns aus Betroffenenperspektive dort zu Wort zu melden, wo es um Fragen der Versorgung suchtkranker Menschen und ihrer Familien geht.

So handelte eines der ersten öffentlichen Statements vom Stellenwert der Abstinenz: Da gab es doch tatsächlich ein paar hauptamtliche Exoten, die den Königsweg der Abstinenz in Frage stellten.

Das löste Empörung aus, denn die Abstinenz war – und ist bis heute – unsere unbestrittene Zielsetzung. Diesen Weg auch nur geahnt zu verlassen, macht Angst. Vor allem auch bei den Angehörigen. Und derselben Angst begegnen wir immer wieder im Zusammenhang der Diskussion um kontrolliertes Trinken.

Ein weiterer Aufschrei mit Statement an die Öffentlichkeit folgte auf die Diskussion auf Seiten der Kostenträger, dass man die Arbeitstherapie eigentlich einsparen könne.

Viele Ehemalige waren der Meinung, dass besonders die Arbeitstherapie ihnen geholfen habe, fit für den Lebensalltag zu werden. Denn dort lernten sie – nach eigener Aussage – wieder in Strukturen zu leben. Und sie erlebten dies als sehr hilfreich.

Eher hinter den Kulissen begann ums Jahr 2000 die Diskussion, wie wir Drogenabhängige in die von Alkoholkranken dominierten Selbsthilfegruppen integrieren könnten.

Da gab es viele Ängste, doch inzwischen ist es in einer ganzen Anzahl von Gruppen selbstverständlich, dass Drogenabhängige dazu gehören. In der Diskussion erkannten wir auch, dass bereits mehr Drogenabhängige bei uns integriert waren – auch auf der Mitarbeiterebene – als wir gedacht hatten.

Zur Diskussion, ob an Tankstellen nachts Alkoholika verkauft werden dürfen, hatten wir natürlich auch eine Meinung und ließen eine Pressemeldung raus ...

... mit einem klaren NEIN, denn wir BWAG-Delegierten wissen aus eigener Erfahrung, dass gerade in den Nachtstunden die Vorräte sozial unauffällig aufgefüllt werden, indem jedes Mal bei einer anderen Tankstelle eingekauft wird.

Den Hammer landete die BWAG im Juni 2009 mit ihrer Resolution, in der sie die Entwicklungen in der Therapielandschaft mit den ständig weiteren Kürzungen und veränderten Therapiekonzepten, die dazu noch als fortschrittlich verkauft wurden, heftig kritisierte.

Sie erhob deutlich ihre Stimme FÜR die Betroffenen, denn die Akteure der konzeptionellen Veränderungen gestalteten FÜR und redeten ÜBER die Betroffenen, ohne diese zu hören.

Das Papier schlug Wellen bis auf die Bundesebene und die Reaktionen der Angesprochenen waren vielfältig und gingen von vehementer Ablehnung über volle Zustimmung bis hin zu differenzierten Reaktionen und der Suche nach einer gemeinsamen Gesprächsebene. Letztere waren für uns als BWAG die wertvollsten Reaktionen.

Ein halbes Jahr später, am 1.12.2009, fand der Runde Tisch bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV BW) in Stuttgart statt, wo Verantwortliche von Suchtverbänden, Fachdiensten, Kostenträgern und Landespolitik mit der BWAG über das Papier diskutierten. Und seither fanden viele weitere Gespräche statt, für die wir sehr dankbar sind. Wir haben den Eindruck, dass die Suchtselbsthilfe seither besser gehört und mit ihrer Erfahrung besser einbezogen wird.

Eine konkrete Folge der Resolutions-Diskussion war zum Beispiel die Einladung der DRV BW an Rainer Breuninger, an der Projektgruppe „Weiterentwicklung der Reha und Stärkung der Selbsthilfe“ mitzuarbeiten sowie die Anfrage des „Gesamtverbandes für Suchtkrankenhilfe der Ev. Kirche in Deutschland“ bei einer Tagung in Berlin das Wesen und Wirken der Suchtselbsthilfe zu präsentieren.

Das neueste Projekt – obwohl auch schon wieder einige Jahre auf dem Weg – ist die Betroffenenvertretung in den kommunalen Suchthilfenetzwerken (KSHN) der 43 Stadt- und Landkreise. Wir haben den Anspruch, dass die Selbsthilfe mit ihrer Betroffenenkompetenz mit am Tisch sitzt, wenn Belange suchtkranker Menschen verhandelt werden.

Denn es ist ein Unterschied, ob Suchtversorgung in guter Absicht vom Schreibtisch aus geplant wird oder ob die akute Not und konkrete Bedrohung betroffener Menschen direkten Einfluss auf Planung und Umsetzung der Suchtversorgung haben.

Die Mitwirkung der Betroffenenvertreter gelingt in den KSHN ganz unterschiedlich. In manchen Gremien sind sie selbstverständlich integriert ... in anderen scheinen sie eher als Störenfriede im Kreis hauptamtlicher Akteure erlebt zu werden.

Das Projekt Betroffenenvertretung war der Anlass, dass wir als BWAG unsere Website entwickelten. Darin machen wir unsere Arbeit transparent, stellen unsere Statements ins Schaufenster und werben für unsere Anliegen, denn wir wollen weitere Ehrenamtliche gewinnen, die dank ihrer persönlichen Entwicklung in der Selbsthilfe ein Stück gesellschaftliche Mitverantwortung übernehmen.

Ziel der BWAG ist und bleibt, das Wesen und Wirken der Suchtselbsthilfe mit ihren vielfältigen Möglichkeiten immer neu ins Blickfeld zu rücken und dafür zu werben, dass Kostenträger und Politik für die nötigen Rahmenbedingungen sorgen, damit WIR Ehrenamtlichen unseren Basisauftrag in den Gruppen und Verbänden tun können.

Die Verantwortlichen in den Fachdiensten fordern wir auf, den Betroffenen bewusst zu machen: Was sie mit therapeutischer Hilfe erworben haben, sind neue Weichenstellungen und eine Menge guter Impulse fürs Leben.

Doch für die Umsetzung und Bewährung im Alltag benötigen sie Begleitung, Ermutigung und oftmals ganz handfeste Hilfen – und das finden sie in der Solidargemeinschaft Gleichgesinnter in den Selbsthilfegruppen.

Dafür stehen wir, das wollen wir bekannt machen, dieses Angebot braucht die Unterstützung von Fachdiensten und Kostenträgern, von Politik und Medien – und Ihre Unterstützung aus den verschiedensten Suchtselbsthilfegruppierungen – damit wir viele weitere Menschen erreichen und sie die Chance für eine neue Lebensqualität bekommen.

Hildegard Arnold & Rainer Breuninger

Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe, Landesverband Württemberg e.V.

 

Ich gehe gerne in meine Gruppe

Suchtselbsthilfe als ein Garant für erfolgreiche Interventionen

Referat von Rolf Hüllinghorst

Es ist schön, heute hier bei Ihnen in Stuttgart zu sein. Ich sehe viele Menschen, die erwartungsvoll nach vorne blicken – das freut mich, setzt mich aber auch etwas unter Druck. Wenn ich durch die Reihen schaue, sehe ich viele Bekannte. Menschen, die mir bei Tagungen begegnet sind, die ich in Seminaren getroffen habe, mit denen ich einige Schritte zusammen gegangen bin. Das ist schön.

Lob der Selbsthilfe

Bei der Vorbereitung auf ein solches Thema gehen die Gedanken immer wieder in die Runde. Gibt es denn noch Dinge, die neu sind? Welche die Menschen nicht schon lange kennen?

Doch dann tauchen Gesichter vor mir auf. Menschen, die ich in Selbsthilfegruppen getroffen habe. Menschen mit einer Geschichte, die ich auf der einen Seite nicht in allen Einzelheiten erleben möchte, die auf der anderen Seite aber einen so positiven Verlauf genommen hat, wie es nicht zu erwarten war. Menschen, die mir immer wieder gezeigt haben, dass es möglich ist, die Abhängigkeit zu überwinden. Dass es möglich ist, dies mit Hilfe einer Gruppe zu tun, und dass dies der Anfang eines langen Weges ist. Eines Weges der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Aber es ist nicht nur die eigene Entwicklung, sondern dieser Weg verändert Familienzusammenhänge, er schafft neue Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder und Angehörige.

Damit meine ich nicht nur die in der Sucht-Selbsthilfe getanen Schritte in Richtung Gruppenleitung, Verantwortungsübernahme auf den unterschiedlichen Ebenen in den Verbänden – viele Menschen z. B. im Kreuzbund hätten sonst nie den direkten Kontakt mit dem Bischof gefunden -, sondern auch und vor allen Dingen die menschliche Entwicklung. Neuer Start im Beruf, neuer Blick auf die Kinder, neue Aufstiegschancen für Kinder – das sind nur einige Aspekte im persönlichen Bereich, zu denen die Selbsthilfegruppe beitragen konnte.

Wenn ich die Gesichter vor mir habe, fällt mir aber auch noch etwas Anderes ein: Viele von ihnen sind schon lange nicht mehr unter uns. Sucht ist eine tödlich verlaufende Erkrankung. Horst, Karl-Heinz, Gerhard und andere hatten mit Hilfe der Selbsthilfegruppe den Ausstieg aus der Alkoholabhängigkeit geschafft, aber sie schafften es nicht, mit dem Rauchen aufzuhören. Sie verstarben im Alter zwischen 55 und 65 Jahren, obwohl wir sie noch so gut hätten gebrauchen können. Aber auch hier das Positive der Gruppe: Ihre Frauen blieben in der Gruppe. Sie fielen nicht in ein Loch, sondern sie haben hier ihre Freundinnen und Freunde, sie haben einen Freundeskreis gefunden, der sie weiter trägt und in dem auch sie eine neue Rolle gefunden haben.

Was wirkt?

Im Zusammenhang mit unserem Thema stellt man sich dann häufig die Frage: Was ist es, das in der Gruppe wirkt? Die Antwort ist einfach und kompliziert zugleich. Selbsthilfegruppen wirken, wenn sich Menschen mit dem gleichen Problem austauschen und gegenseitig hilfreich sind. Das ist ja schon etwas paradox: Die gleichen Probleme führen zur Überwindung? So einfach ist es ja nicht. Wir können festhalten, dass es die Menschen sein müssen, die sich in einer Gruppe treffen. Menschen, die ihre Erkrankung schon länger oder kürzer überwunden haben, die sich in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung und der Genesung befinden. Menschen, mit unterschiedlichen Erfahrungen, die sie gerne weitergeben.

Warum wirkt es?

Ich glaube, dass die Wirkung einer Gruppe in erster Linie darin liegt, dass man den Menschen ver-traut. Dass man spürt „Die wissen, wovon sie reden“, dass man erlebt „Ich bin ja nicht der oder die Einzige“ und dass man – wenn alles gut geht, sich angenommen fühlt.

Ich glaube aber auch, dass es an einigen wenigen Regeln liegt:

 Es müssen genügend Menschen da sein, die ihre Erkrankung schon länger überwunden haben. Es reicht nicht darüber zu berichten, wie schlimm alles war, sondern wichtiger sind die Berichte über die Bewältigung.

 Es werden keine Ratschläge geben, sondern es wird von sich erzählt. Die Entscheidung über das, wie ich es tun und anpacken möchte, bleibt bei mir.

 Ich spüre eine unsichtbare, schützende Hülle, die die bestehende Gruppe für einen neuen Be-sucher bildet. Unter diese Hülle kann ich mich immer wieder zurück ziehen.

Wann wirkt es?

Auch das „Wann“ ist immer noch eine große Unbekannte. Wir sind uns sehr häufig darin einig, dass die Menschen zu spät in die Gruppe kommen. Aber was ist in unserer trinkfreudigen Gesellschaft der „richtige Zeitpunkt“? Solange es noch Menschen gibt, die mit trinken – oder sogar mehr trinken – warum soll ich aufhören? Es funktioniert ja noch alles, auch wenn ich es mir schon lange schön rede.

Eine Gruppe kann nur dann wirken, wenn man sie kennt, wenn man sie besucht. Vielleicht auch schon im Vorfeld, wenn man den Menschen trifft, der einen mit in die Gruppe nimmt. Aber es geht nicht um Faltblätter oder Artikel in der Zeitung. Die Wirkung kann eine Gruppe erst dann entfalten, wenn die Menschen in der Gruppe miteinander agieren, wenn sie miteinander sprechen, sich zuhören und sich vertrauen.

Aktuelle Situation

Die aktuelle Situation in den Sucht-Selbsthilfegruppen und Sucht-Selbsthilfeverbänden ist als „zwie-spältig“ zu beschreiben. Auf der einen Seite gibt es Gruppen, in denen ist „was los“, es kommen neue Menschen, sie setzen sich auseinander und sie haben Pläne, wie es weitergehen soll.

Aber dann gibt es auch die andere Seite: Man trifft sich regelmäßig, aber es kommen kaum neue Menschen in den Kreis. Sie werden erwartet, aber wenn sie dann kommen, haben sie häufig den Eindruck, dass sie nicht willkommen sind. Die Gruppe ist sich selbst genug, sie kennt ihre Themen, sie kennt sich und die Gespräche wandern ab in den privaten Bereich.

Vor allen Dingen Sie, die Sie in der Verbandsleitung tätig sind, können für sich ja einmal eine Bilanz ziehen, welche Gruppen bei Ihnen überwiegen. Welche Gruppen für den Verband noch wichtig sind. Oder im betriebswirtschaftlichen Jargon gesprochen: Auf welche Gruppen kann ich noch setzen, in welche Gruppen kann ich noch investieren?

Doch vielleicht schauen wir noch einmal etwas näher hin:

Älter

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Mitglieder älter werden. Das hat keinen „demografischen“ Grund, wie immer mal wieder versucht wird zu behaupten. Das Eintrittsalter in die Behandlungsbe-dürftigkeit hat sich über die Jahre kaum verändert. Immer noch sind es die Männer um die 45 Jahre, die in großer Zahl Hilfe suchen, wie Sie dieser Grafik entnehmen können. Hier ist das Alter aufgetra-gen, in dem die Menschen in die Beratungsstellen kommen.

Abb. 1 und 2

Und in dieser Grafik haben wir die Behandlungsfälle im Allgemeinkrankenhaus im Jahre 2011. Auch hier sehen wir die Spitze in der Altersgruppe zwischen 40 und 55 Jahren.

Abb. 3

Viele unserer Gruppen wurden vor 20, 25 oder 30 Jahren gegründet. Sie waren aktiv, sie gewannen neue Freunde. Aber irgendwann versiegte der Zugang. Vielleicht war der Altersunterschied zu den neuen Hilfesuchenden schon zu groß, vielleicht war es aber auch die Lebenseinstellung, die sich ge-ändert hatte, und die neue Menschen spürten: Das war nicht ihre Welt.

Weniger

Es ist also kein Wunder, wenn dann die Mitglieder bzw. Gruppenbesucher weniger werden. Wenn die Kosten für Kränze höher sind als für das Grillgut. Eines unserer Probleme ist ja, dass es da anschei-nend eine Regel gibt, dass größere Gruppen größeren Zulauf haben, und kleine Gruppen klein bleiben. Und das „Weniger“ passiert schleichend. Sind es in den Gruppen eine oder zwei Personen, die man bei der nächsten Meldung an den Landes- oder Bundesverband nicht mehr berücksichtigen kann, so summiert sich das bei den Verbänden auf Rückgänge bis zu 5 % pro Jahr.

 

Weniger Aktivität

Wenn wir nun die Beschreibungen „älter“ und „weniger“ zusammen nehmen, so bedeutet das „weni-ger Aktivität“. Weniger Menschen, die da sind, und weniger Menschen, die Tische und Stühle tragen können, um das einfachste Beispiel zu nehmen. Älter werden ist lebensgefährlich – auch für eine Gruppe. Wenn man im Alter aktiv bleibt, soll das ja gut sein. Das gilt auch für Gruppen. Aber es gibt eben Grenzen.

Wie kam es dazu?

In einem Vortrag soll man positiv sein, nach vorne schauen und die Zuhörerinnen und Zuhörer ermu-tigen. Das will ich und das werde ich auch. Dennoch bitte ich Sie, dass wir jetzt noch einmal gemeinsam einen Blick zurück werfen. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Denn wenn wir die Ursachen nicht finden, können wir nicht die richtigen Rezepte finden.

Veränderung der Gesellschaft

Wenn Sie heute die Zeitungen aufschlagen, so werden Sie feststellen, dass es auch andere Vereine und Verbände sind, die über eine Überalterung klagen, die händeringend nach Nachwuchs suchen. Bei einigen von den Vereinen, die sich zu Wort melden, kommt mir das ganz normal vor und ich wundere mich, dass es sie immer noch gibt. Wenn ich bei einigen von ihnen mitmachen sollte, würde ich Pickel bekommen.

Die Parteien pflegen ihre jungen Mitglieder; die Gewerkschaften denken sich ähnliche Dinge aus wie frühe Partizipation, Beteiligung über das Internet usw. Und dennoch gibt es sie nicht mehr, diese glatten Karrieren von der Parteijugend zum Bundeskanzler. Ich denke, dass das nicht in erster Linie mit den jungen Menschen zu tun hat. Nicht damit, weil sie nicht für andere Menschen da sein wollen. Nein, sie können es auch nicht. Wenn man sich von einer prekären Arbeitssituation in die nächste rettet, dazu noch für eine Familie Verantwortung trägt – was bleibt da noch an Zeit übrig? Und auch das ist neu: Junge Menschen entscheiden sich heute deutlicher. Hier die Arbeit – dort die Freizeit.

Und wenn ich dann eine Position erreicht habe, die verantwortlich ist, die gut bezahlt wird: Dann habe ich mich schon fast als Sklave verkauft, muss ständig erreichbar sein, stets im Einsatz.

Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen freiwilligem gesellschaftlichen Engagement und der Mitarbeit in Selbsthilfegruppen. Selbsthilfegruppen müssten sich eigentlich um ihren „Nachwuchs“ keine Sorgen machen, denn er ist auch ein Ergebnis unserer Gesellschaft. Der große Psychiater und Sozialwissenschaftler Paul Watzlawick sagte voraus, dass dieses Jahrhundert das Jahrhundert der Sucht und der Depression sei. Wenn man dann Depression noch mit „Burn-Out“ übersetzt, dann haben wir alle erforderlichen Stichworte, die seine Vision zur Realität werden lässt. Tatsächlich gibt es immer mehr Menschen mit Problemen, denen ein Besuch einer Selbsthilfegruppe gut tun würde und anzuraten ist.

Veränderung der ambulanten und stationären Suchthilfe

Hier kommt nun in der internen Diskussion immer wieder hoch, dass sich in der professionellen Suchthilfe viel verändert habe, dass die „Profis“ die Menschen nicht loslassen würden. Und dann folgt in der Regel der Hinweis, dass an jedem Patienten verdient werde.

Fakt ist, dass sich die Suchtselbsthilfebewegung und die professionelle Suchthilfe zur gleichen Zeit entwickelt haben. Mehr Menschen in den Gruppen, mehr Sozialarbeiter in den Beratungsstellen. Später Verkürzung der Therapiezeiten, dafür neue ambulante Angebote, Finanzierung der Nachsorge und wenn alles nicht mehr hilft, ganztätig betreute Wohngruppen.

Dabei gab es im professionellen Bereich, insbesondere in den großen Städten, sicherlich manche Über-Entwicklung. Man wollte den Erfolg, und insbesondere Drogenabhängige waren sperrig. Also diskutierte man über Substitution, die Vergabe von Ersatzpräparaten, später über Freigabe von bestimmten Substanzen. Man konnte den Eindruck haben, dass ein Versorgungssystem für Drogenabhängige entstanden ist, das wirklich umfänglich und für jede Lebenssituation ausgerichtet ist.

Aber Fakt ist auch, dass sich die Ergebnisse nicht verändern. Gerade in der stationären Rehabilitation wird deutlich, dass alle – sicherlich richtigen – Veränderungen im Therapiebereich und im Setting nicht zu gravierenden Veränderungen der Erfolgsquoten geführt haben.

Und Fakt ist auch, dass auch hier eine Generation nicht so richtig erreicht wurde, weil die Therapeuten mit ihren Klienten älter wurden.

Und der letzte Fakt: Beratungsstellen verdienen nicht an ihrem Klientel. Gerade werden die Beträge für die Nachsorge gekürzt und wir können hoffen, dass das gute deutsche Hilfesystem in seiner Substanz erhalten bleibt.

Nein, die Schnittstellen müssen anders gepflegt werden.

Was nun?

Mit Selbsthilfegruppenanschluss geht es besser

In der Zeitschrift SUCHT (58 (4), 2012, 259 – 267) erschien ein Artikel, der sich mit „Merkmalen von Alkoholklienten der ambulanten Suchthilfe in Selbsthilfegruppen“ befasst. Die Autoren Walter Fuchs (vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien), Silke Kuhn, Marcus-Sebastian Martens und Uwe Vertheim (alle vom Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg ZIS) haben in einer Studie in Hamburg die ambulant durch die professionelle Suchthilfe betreuten Klienten auch daraufhin untersucht, ob und in welcher Interaktion der Besuch von Selbsthilfegruppen steht. Um es vorweg zu nehmen: In den Schlussfolgerungen für die Praxis wird empfohlen: (Abb. 4)

 Bei Klienten der ambulanten Suchthilfe, die zusätzlich Selbsthilfegruppen besuchen, können bezüglich des Trinkverhaltens sowie der psychischen und körperlichen Gesundheit günstigere Behandlungsverläufe festgestellt werden.

 Alkoholabhängige Klienten der professionellen Suchthilfe sollten ermutigt werden, wenn möglich über einen längeren Zeitraum eine (für sie passende) Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Selbsthilfeangebote sollten so ausgebaut werden, dass sie auch für bisher nicht erfasste Gruppen zugänglich werden. Es zeigt sich, dass professionelle Suchthilfe durch den Besuch von Selbsthilfegruppen sinnvoll ergänzt werden kann.

Im Bereich der Selbsthilfe gibt es nur wenig Forschung, und wenn, dann wird meistens beschrieben, was in den Gruppen getan wird und welche Wirkung die Gruppen auf die Gruppenbesucher haben. Der Goldstandard von Forschung, nämlich die Wirkung von was auch immer doppelt zu untersuchen, kann in vielen Fällen nicht durchgeführt werden. Eine zu untersuchende Gruppe in der Selbsthilfe findet man – aber eine sozial und gesundheitlich ähnlich strukturierte in der Allgemeinbevölkerung (zu Kontrollzwecken) zu finden, ist dann schon schwerer, zu schwer. Alle diese Bedenken werden von den Forschern vorgetragen – und dann wird entschieden, mit den Zahlen zu arbeiten, die man hat.

Und das sind nicht wenige: Basis ist die Hamburger BADO-Dokumentation, in der alle in der Stadt Hamburg ambulant betreuten Suchtkranken erfasst werden. Aktuell werden die Daten von zwei Jahren untersucht: 2006 und 2007. Diese wiederum werden klassifiziert nach der Teilnahme an Selbsthilfegruppen, und zwar: (Abb. 5)

1. Weder zuvor noch aktuell: 5.189 Personen

2. Bereits zuvor und aktuell: 260 Personen

3. Aktuell, aber nicht zuvor: 496 Personen

4. Zuvor, aber nicht aktuell: 122 Personen

 

Da überrascht zunächst einmal der geringe Anteil von Selbsthilfegruppenbesuchern an der Zahl der ambulant betreuten Menschen. Für mich stellt sich die zentrale Frage, ob die professionellen Betreuer wirklich einen Besuch von Selbsthilfegruppen empfehlen und wenn ja, ob sie hinter ihrer eigenen Empfehlung stehen. Gut, dass das in den Schlussfolgerungen noch einmal explizit aufgegriffen wird. Was wir brauchen, ist nicht nur eine selbsthilfefreundliche Gesellschaft, sondern wir brauchen auch selbsthilfefreundliche Therapeuten und Behandler.

Denn die untersuchten Merkmale deuten alle darauf hin, dass sowohl die Menschen, die aktuell eine Gruppe besuchen oder aber vorher eine Gruppe besucht haben, die besseren Werte haben. Wissenschaftlich stellt sich dann sofort die Frage, ob dies an den Menschen liegt, die sich für einen Besuch von Selbsthilfegruppen entscheiden haben, oder ob es sich um eine Wirkung des Gruppenbesuchs und der Gruppe handelt. Für mich stellt sich diese Frage nicht, sondern ich freue mich über die Ergebnisse. Dafür nur ein Beispiel.

 

Die Menschen in den zuvor beschriebenen Gruppen tranken täglich Alkohol (in %) (Abb. 6)

zu Beginn der Behandlung aktuell

1. Weder zuvor noch aktuell: 30,4 17,0

2. Bereits zuvor und aktuell: 11,1 1,7

3. Aktuell, aber nicht zuvor: 12,0 3,2

4. Zuvor, aber nicht aktuell: 13,6 5,0

Alle Werte haben sich verbessert, aber mit aktuellem Besuch von Selbsthilfegruppen sind sie einfach am besten. Ich mag diese Untersuchung, zeigt sie doch auf, was durch die Mitgliedschaft und die Mitarbeit in Selbsthilfegruppen möglich ist.

In zwei Richtungen schauen

Nun haben wir die Situation der Selbsthilfe schon aus vielen Richtungen angeschaut. Wenn wir auf-merksam sind, können wir viele Dinge aufnehmen: Aus der Gesellschaft, der Politik und der Wissenschaft. Aber die Konsequenzen müssen wir selber ziehen. Wir müssen selber wichten, was uns wichtig ist, was erfolgversprechend sein kann.

Ich werde das jetzt versuchen. Aber es ist wie in der Gruppe: Ich kann meine Ideen und Wünsche äußern – Sie müssen entscheiden, was für Sie wichtig sein könnte, was Sie evtl. übernehmen oder ausprobieren möchten.

In meinen Augen sind es zwei Bereiche, die wir uns gemeinsam anschauen können:

1. Wir müssen mit den Menschen arbeiten, die da sind. Auch wenn wir es manchmal wollten, wir können uns keine Gruppenbesucher, dazu noch die richtigen, schnitzen.

2. Wie erreichen wir neue Menschen?

 

Mit den Menschen arbeiten, die da sind

Die Menschen, die in unsere Gruppen kommen, sind zufrieden. Würden Sie irgendwohin gehen, wo es Ihnen nicht gefällt? Aber wenn ich dann dort bin und es mir gefällt, warum sollte ich etwas verändern wollen? Doch wenn wir uns in der Gruppe nicht verändern, bleiben wir stehen. Wenn wir uns dann immer noch nicht verändern, fallen wir zurück. Wir beklagen die Situation, aber was tun?

Bereitschaft zur Veränderung wecken

Wir müssen die Bereitschaft, die Gruppe zu verändern, wecken. Die Gruppe muss wieder in Bewegung gebracht werden. Nicht: Das war doch alles schon da; das haben wir alles schon versucht, sondern: Lasst es uns noch einmal versuchen. Wenn wir Menschen erreichen, dann können wir helfen. (Und nur als Nebenbemerkung: Die Mittel gemäß § 20 SGB V sind sinnvoll eingesetzt, wenn ein Gruppenseminar durchgeführt wird. Nicht wegen des Hotels und der Verpflegung, sondern wegen der Planung: Was können wir, die wir hier beisammen sind, in diesem Leben noch erreichen? Was können wir noch zusammen tun? Denn das wissen wir doch aus Erfahrung: Wenn wir uns zusammensetzen, finden wir gute Lösungen.

Auf die (neuen) Erfahrungen der Besucher reagieren

Jeder von uns hat ein Bild davon, wie er sich sieht. Wie er seine Familie sieht, seinen Freundeskreis. Und jedermann hat eine Vorstellung davon, was „normal“ ist. Leider hat diese Normalität ganz viele Facetten, und ist bestenfalls in sehr ausgewählten Gruppen so etwas wie ein „Leitbild“.

Die Menschen, die heute zu uns kommen, sind nicht immer „wie wir“. (Das können sie ja auch nicht sein, denn wir müssen bedenken, welche Wege wir in der Gruppe, in der Gemeinschaft zurück gelegt haben.) Und dennoch kann man es manchmal beim besten Willen nicht unterdrücken, einen neuen Gast zu bewerten. Aber das ist falsch! Die Gruppenmitglieder müssen sich auf jeden Menschen, der über die Schwelle tritt, neu einlassen. Er bringt Erfahrungen mit, die andere nie machen konnten. Sie kennen Suchtmittel, von denen wir noch nicht gehört haben, sie hatten Beschaffungswege, von denen wir lieber nichts hören wollen.

Und dennoch: Wir müssen zuhören, lernen, um dann mit unseren Erfahrungen evtl. hilfreich sein zu können.

Offenheit für gemeinsame neue Wege (MI)

Beim „kontrollierten Trinken“ wird es am deutlichsten. Da kommt jemand neu in die Gruppe und er-kundigt sich danach, wie es denn mit dem „kontrollierten Trinken“ gehe. Sie kennen das: Da bricht ein Sturm los und alle können mitreden. Mitreden in dem Sinne, dass das der ganz falsche Ansatz sei; man kenne keinen, der es geschafft habe; entweder – oder.

Dieses „Entweder – oder“ macht uns heute zu schaffen. Denn das können wir von den professionellen Helfern lernen: In der Motivationsphase lohnt es sich, auf den Klienten, auf den Freund einzugehen. Niemand ist davon überzeugt, dass es ab sofort ohne das Suchtmittel geht. Insgeheim hoffen er oder sie darauf, weiter Alkohol trinken zu können, aber eben nicht ständig „abzustürzen“.

Wenn man Geduld und Vertrauen hat, kann man sich auf diese Diskussion einlassen, denn – bei Abhängigen geht es nur ganz ohne das Suchtmittel. Aber es geht nicht darum, dass wir das wissen. Es geht darum, dass unser Gegenüber es merkt und dann auch weiß: Ich kann nicht wie andere Menschen trinken, ich muss ganz aufhören.

In der Gruppe motivieren wir nicht beim ersten Mal, mit dem Trinken Schluss zu machen. Nein, wir motivieren, bis zum nächsten Gruppenabend nüchtern zu bleiben. Wenn das nicht geht, anzurufen oder uns zu treffen.

Es sind die kleinen Schritte, die wir gemeinsam tun müssen, um den langen Weg gemeinsam gehen zu können.

Kenntnis der Veränderungen im Hilfesystem

Vielleicht glauben Sie es mir: Bei manchen Gruppenleitern kann man an der Art der Moderation der Gruppe noch erkennen, bei welchem Gruppentherapeut sie stationär behandelt wurden. Sie machen es so, wie sie es erlebt haben. Aber ich bin auch ganz sicher, dass sich die Gewichte in der Klinik verlagert haben, dass neue Methoden und auch neue Werte Einzug gehalten haben.

In den stationären Fachkliniken treffen wir auf Menschen, die wirklich schwer krank sind. Denn die anderen werden ambulant behandelt. Die meisten aus beiden Gruppen bekommen ambulante Nachsorge, bleiben also bis zu 18 Monaten in der Obhut von Sozialarbeitern oder Therapeutinnen.

In der medizinischen Rehabilitation ist das Prinzip der gemeinsamen Therapiegruppen schon lange aufgehoben worden zugunsten von Indikationsgruppen, um intensiver auf die Menschen, ihre indivi-duellen Stärken und Schwächen, eingehen zu können. Vor allen Dingen steht aber der Aspekt der Vermittlung in Arbeit ganz obenan, denn die Rentenversicherung bezahlt die Maßnahmen, um „die Arbeitsfähigkeit zu verbessern oder wiederherzustellen“.

Auch hier: Es geht nicht darum, was wir erlebt und für gut befunden haben, sondern es geht um die heutige Situation, die wir zu akzeptieren haben. Die Menschen kommen vor diesem Hintergrund in die Gruppe, und da nützt es niemanden, wenn erst einmal erklärt wird, wie früher alles war.

Alte Menschen in der Gruppe

Und da sind wir auch schon bei einem anderen schwierigen Thema. Bis wann sollte man aktiv in der Gruppe mitwirken? Bis wann sollte man in die Klinik gehen, um von sich zu erzählen, sein eigenes Beispiel zu präsentieren? Gut ist es doch immer, wenn man noch in etwa zu den Menschen passt, die heute unsere Hilfe suchen. Oder deutlicher: Irgendwann ist Schluss und man wird nicht mehr als hilfreich erlebt, weil man zu alt geworden ist.

Ich denke, dass es Gruppen gibt, die schon lange keinen neuen Gast begrüßen konnten. Diese Tatsache sollte akzeptiert werden, denn nun kann man sich in der Gruppe anderen Dingen zuwenden. Man ist in einer Gruppe mit Freunden, man trifft sich regelmäßig, man kennt sich und man hilft sich. Wie viele Menschen können das schon von sich sagen? Wie viele Menschen dürfen das erleben?

Wenn man dann am Gruppenabend noch seine guten Gedanken zu den Menschen schickt, die aktuell noch abhängig sind, die in eine Gruppe gehen oder einen Rückfall hatten – das ist die Aufgabe des Alters.

Wenn man aber denkt: Die schaffen das doch alles nicht, die machen es nicht wie wir – das ist ungefähr so, als wenn man anderen Menschen in der Wirklichkeit ein Bein stellt.

Eigene (demütige) Positionierung

In den Gruppen können Sie stolz sein auf das Erreichte. Für die Gruppe, für den Verband und für sich selbst. Diesen Stolz können Sie auch zeigen. Vielleicht gab es für die viele Arbeit in den letzten Jahren das Bundesverdienstkreuz oder andere Medaillen. Ein kleiner Ausgleich für viele Stunden der Zuwendung an andere Menschen.

Aber in der Selbsthilfegruppe – da zählt das alles nicht. Da geht es um mich und meine Schwächen, meine Nöte, die Schwierigkeiten meines Nachbarn. Wenn wir die Gruppe ernst nehmen merken wir erst, wie demütig wir in jedem Gespräch sein sollten, wie dankbar. Persönliche Demut und Dankbarkeit – das merkt unser Gegenüber und er oder sie merken auf.

Qualität

Lassen Sie mich, bevor ich zu den Menschen komme, die wir neu erreichen wollen, ein paar Sätze zur Qualität sagen.

In den Gruppen

Bevor Menschen mit Fragebögen in die Gruppen kommen und die Arbeit überprüfen und bewerten, sollten die Gruppen immer wieder für sich drei Fragen beantworten:

1. Kommen neue Menschen in unsere Gruppen?

2. Kommen die Menschen wieder?

3. Gibt es einen guten, geplanten Abschied in unserer Gruppe?

Darum geht es doch, dass Menschen zu uns kommen, dass sie wiederkommen, und dass sie erhobenen Hauptes sagen können: „Vielen Dank, Ihr habt mir geholfen. Aber jetzt möchte ich es ohne Gruppe versuchen.“

Natürlich kann man jetzt noch eine Reihe von Kriterien aufstellen, die gute Gruppenarbeit beschreibbar machen. Aber wir befinden uns in der Selbsthilfe. Wir müssen mit den Menschen arbeiten, die da sind. Sie tun das freiwillig, wir stellen sie weder ein noch bezahlen wir sie.

Und dann gibt es natürlich die Seminare in den Verbänden, in denen all die Punkte angesprochen und erarbeitet werden können, die in den Gruppen nicht so gut laufen.

In den Verbänden

Die Kriterien für Qualität in den Verbänden sind da schon schwieriger zu beschreiben. Am einfachsten vielleicht so: Gibt es ein Stellenprofil für den hauptamtlichen Mitarbeiter / die Mitarbeiterin? Wird dieses Stellenprofil regelmäßig überprüft bzw. darüber gesprochen, ob die Dinge, die von einem Mitarbeiter erwünscht werden, auch getan werden?

Gibt es klare Zuständigkeiten und sind die Gruppen mit ihrem Verband zufrieden? Denn die Gruppen können zur Not auch ohne Verband (in Berlin sind das schon fast 50 % aller Selbsthilfegruppen im Suchtbereich), aber ein Verband ist nichts ohne Gruppen.

In der professionellen Hilfe

In den Fachkliniken und den Beratungsstellen ist ja alles geregelt. Fast alle sind zertifiziert und arbeiten qualitätsgesichert. Wünschen würde ich mir – und dafür lohnt es auch zu kämpfen, dass der Umgang mit Selbsthilfe geregelt wird. Es muss verpflichtend für die Qualität einer Beratungsstelle sein, dass bei jedem Klienten dafür gesorgt wird, dass er eine Chance hat, sich einer Gruppe anzuschließen.

Wie erreichen wir neue Menschen?

Eigentlich kann ich es schon nicht mehr hören. „Wie erreichen wir neue Menschen?“ oder – das ist die verschärfte Form: „Wie erreichen wir junge Menschen?“ Die erste Antwort ist ganz einfach, und leitet sich aus dem vorher gesagten ab: Indem wir uns in Bewegung bringen. Sitzen und warten und hoffen – das kann doch nichts bringen!

Uns auf andere verlassen – auch das kann nichts bringen. Da wird dann stundenlang über die Formulierung einer Pressemeldung gestritten – die dann ganz verändert in der Zeitung erscheint. Ohne das Wichtigste überhaupt: Wann kann man die Gruppe wo erreichen.

Klarheit der Zielgruppe, die angesprochen werden soll

Stellt sich die erste Frage: Wen wollen wir erreichen? Kennen wir unsere Zielgruppe genau? Erst wenn wir darauf eine Antwort haben, wissen wir den Weg. Sollten wir – welche Überraschung – zu der Auffassung kommen, dass es die Menschen mit Alkoholproblemen und deren Angehörige sein, die wir erreichen wollen, so wissen wir, wo sie sind.

Wo sind die Menschen?

In der gemeinsamen Statistik von fünf Verbänden der Suchtselbsthilfe finden wir erste Hinweise. Die Menschen in den Selbsthilfegruppen kommen:

 aus den Beratungsstellen;

 aus den Fachkliniken;

 aus den Krankenhäusern und

 ohne vorherige Berührung mit dem Hilfesystem.

Kriterien guter Kooperation

Das wissen wir – warum holen wir sie nicht genau dort ab? Ich erinnere mich noch gut an die 70iger und 80iger Jahre. Ehrenamtliche Mitglieder der Verbände waren in großen Betrieben für das Thema „Alkohol im Betrieb“ zuständig. Sie warfen, etwas übertrieben gesagt, das Lasso aus, und wer als alkoholabhängig auffiel, wurde in die Gruppen ihres Verbandes geschickt. Später, als sich das Arbeitsfeld „Betriebliche Gesundheit“ durchsetzte, die Hilfe hauptberuflich geschah, versickerte diese scheinbar nie versiegende Quelle.

Es ist anscheinend immer das Gleiche: Kamen früher die meisten Menschen aus der professionellen Hilfe auch in die Selbsthilfe, so wird das heute anscheinend immer weniger. Da hilft nur eins: Eine gute, gelingende Kooperation. Nicht abwarten, sondern hingehen und den Sozialarbeiter treffen.

Auch dort gibt es Gespräche, die wir schon kennen. „Ich sage jedem, er soll in eine Gruppe gehen.“ „Ich kann sie doch nicht in Eure Gruppen tragen.“ „Noch letzte Woche kam jemand zurück aus Eurer Gruppe, der sagte, dass er dort nicht mehr hingehen wird. Er fühlte sich nicht angenommen.“ Das kann alles stimmen. Aber man muss darüber ins Gespräch kommen. Und im Gespräch bleiben. Und vorher informiert werden. Auch das ist doch nicht neu: Erst wenn wir uns kennen, können wir miteinander reden.

Zu den Menschen gehen

Bei den Menschen, die sich bereits in Betreuung oder Behandlung befinden, ist es die notwendige Kooperation, um den Übergang in die Selbsthilfe zu gestalten. Was machen wir aber mit denen, die noch nicht mit dem Hilfesystem in Berührung gekommen sind, die aber dringend etwas tun müssten?

Diese Menschen haben ja ein doppeltes Problem. Zunächst einmal konsumieren sie zu viel. Das macht ihnen Probleme. Im beruflichen Bereich, im familiären Bereich, in der Gesundheit. Aber sie meinen, dass sie es schon in den Griff bekommen würden. Sie wollen noch keine Hilfe, obwohl sie es bitter nötig hätten.

Die Anonymen Alkoholiker sprechen von dem „persönlichen Tiefpunkt“, und jeder von Ihnen kann einen solchen Tiefpunkt schildern.

Doch heute wissen wir auch mehr über Motivation. Wir wissen, dass jedes Ansprechen wirkt. Auch wenn ärgerlich fortgelaufen wird – es wirkt nach. Was bleibt uns also anderes übrig, als immer wieder zu den Menschen zu gehen. Sie anzusprechen und unsere Hilfe anzubieten.

Ich erinnere mich noch genau, wie mein Vater Hausbesuche machte. Der „Fürsorger“ hatte eine Liste von Familien, die besucht werden sollten. Mein Vater und seine Freunde besuchten sie am freien Samstag, damals eine neue sozialpolitische Errungenschaft. Und einige davon kamen dann auch in die Gruppe.

Dann kamen immer mehr Menschen zu uns, und wir waren die besseren Sozialarbeiter. Wir sind jede Woche hier, und wer ein Problem hat, der soll doch kommen. Ich weiß noch, dass ich das auch gesagt habe. Aber wir dürfen ja auch immer noch dazu lernen. Und das bedeutet für mich heute, dass wir wieder hinaus gehen müssen. Sie wissen doch, dass zum Beispiel Menschen mit übermäßigem Alkoholkonsum nur selten ein Beschaffungsproblem haben. Aber sie haben ein Entsorgungsproblem. Abends am Glascontainer – da sollten Sie mal hingehen.

Oder diese Selbsthilfetage und Gesundheitskonferenzen. Wie gerne stellen wir dort einen Stand auf. Wir verteilen unsere Prospekte und hoffen darauf, dass jemand, der einen Prospekt mitgenommen hat, diesen an die richtige Stelle weitergibt. Ich bin davon überzeugt: Unsere Zielgruppe erreichen wir nicht hier, sondern beim Discounter. Oder in der Kneipe.

Wenn wir unsere Zielgruppe also definiert haben, wissen wir, wo sie ist. Dorthin müssen wir gehen. Das nimmt uns niemand ab. Und das macht auch niemand anders. Wir sollten es zumindest ausprobieren. Es ist übrigens nicht verboten, bei der Gelegenheit auch Mitglieder oder Fördermitglieder zu werben, Spenden zu akquirieren oder Lose zu verkaufen. Und nicht hinter dem Tisch zu stehen, sondern davor.

 

Suchtselbsthilfe für junge Erwachsene

Noch immer ist mein Thema „Wie erreichen wir neue Menschen?“ Und, das ist das Schöne, es gibt immer wieder gute Beispiele. Gruppen junger Menschen, die sich regelmäßig treffen. Gruppen, die dynamisch sind – und dann wieder gemeinsam älter werden.

Hier gibt es keine Regeln, sondern es gibt nur Menschen, die junge Menschen begeistern können. Die sind offen, tolerant, neugierig, großzügig, es sind in der Regel Teamplayer. Die können wir uns nicht backen. Aber wir können immer wieder ein Auge darauf haben, ob es nicht auch bei uns solche Menschen gibt. Die sich vielleicht noch nichts zutrauen. Oder denen wir nichts zutrauen. Die wir fordern und fördern sollten.

Und in den – wenigen – Gruppen junger Menschen gelten andere Regeln, die wir akzeptieren müssen. Das ist so ein Ding mit der Regelmäßigkeit. Aber wenn ich mich für Freundin oder Gruppe entscheiden sollte? Oder mit der Ordnung. Gerade bekam ich eine SMS. Ich muss weg. Die Flasche kann ich doch auch nächste Woche noch wegräumen.

Sie merken, es geht um neue Formen des Zusammenlebens.

Auch junge Menschen haben bereits Suchtprobleme. Und Selbsthilfegruppen helfen auch hier. Aber die Regeln sind andere. Nur wenn wir uns darauf einlassen, können wir hilfreich sein.

Suchtmittel und Suchtverhalten

Ein letztes Wort in dieser Rubrik. Immer wieder werden neue Säue durchs Dorf getrieben. Mal ist es Crack, mal ist es Crystal Meth. Beides unumstritten gefährlich, aber beides ist nur sehr begrenzt auf dem deutschen Markt angekommen. Ich glaube nicht, dass ein Konsument dieser Drogen in Ihren Gruppen gelandet ist.

Dennoch sind die Medikamentenabhängigen in den Gruppen unterrepräsentiert, es kommen weniger Glücksspieler in Selbsthilfegruppen als sie sollten, und der Konsum von unterschiedlichsten Suchtmitteln soll schon fast die Regel sein.

Da gibt es viel Unsicherheit in den Gruppen. Was sollen wir tun? Welche Ausbildung benötigen wir? Ich traue mir das nicht zu. Und immer wieder ist es das Gleiche: Wenn ein Menschen mit Problemen, die auch uns bisher fremd sind, zu uns kommt, so wird er freundlich willkommen geheißen. Man kümmert sich um ihn, und auf einmal steht nicht das konsumierte Mittel im Vordergrund, sonder der Mensch.

Wenn es dann noch Netzwerke innerhalb des Verbandes oder der Kommune gibt, an die man im Ein-zelfall verweisen kann, dann ist das eine gute Sache. Wir können nicht alles, und wir sollten bei unse-ren Kernkompetenzen bleiben.

Immer…

stellen sich die gleichen Fragen:

 Was sind die Bedürfnisse der Menschen, die wir erreichen wollen, die (unsere) Hilfe brauchen?

 Was sind die Bedürfnisse der Gruppen (nicht der Verbände)?

 

Diese Fragen müssen wir beantworten. Wenn wir die für uns richtigen Antworten gefunden haben, können wir daran gehen, die dann notwendigen und für uns richtigen Lösungen zu versuchen.

Es gibt – das haben Sie bis hierher sicherlich deutlich vernommen, keine Patentrezepte. Aber Rezepte. Und Fehler, die schon zu häufig gemacht worden sind. Und viele Gruppen haben nicht mehr so viel Zeit.

Ich gehe gerne in meine Gruppe

So ist mein Vortrag überschrieben. Eine Freundin hat das letzte Woche so beschrieben: Ich habe den Eindruck, dass jeden Mittwoch ein Teufel und ein Engel in meinem Kopf miteinander um mich kämp-fen. Der Teufel sagt: Bleib zu Hause, hier ist es doch auch schön. Und der Engel sagt: Du wirst erwartet, die anderen Menschen brauchen Dich, sie rechnen mit Dir. Und, so schloss sie ihre Erzählung: Meistens gewinnt der Engel.

Das Wunder in der Gruppe erleben

Nach wie vor ist es die für mich wichtigste Erfahrung wenn Menschen sagen, dass sie in einer Selbsthilfegruppe ein Wunder erlebt haben. Es ist gar nicht so leicht, sich von ihnen das Wunder beschreiben zu lassen. Das ist aber auch nicht so wichtig, wichtig ist es, darauf zu vertrauen, dass es das gibt.

Jemand kommt in die Gruppe, ist skeptisch, „was soll das bringen?“ und geht nach Hause. Voller Vertrauen, dass er das, was andere Menschen in der Gruppe geschafft haben, auch schaffen wird. Und das muss ja nichts Großes sein. Zu erleben, den Mund aufgemacht zu haben. Sich in einer Gruppe zu äußern. Neue Eindrücke zulassen, Hoffnung zu gewinnen. Viele von Ihnen kennen das.

Und darum arbeiten wir immer wieder daran. Daran, dass Menschen das Wunder in der Gruppe erleben können, dass es ihnen Wege für ihr zukünftiges Leben weist.

Veränderungen zulassen

Hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, schließt sich der Kreis. Menschen verändern sich, und wir müssen diese Veränderungen zulassen. Wir müssen auch uns selbst immer wieder verändern, wir müssen in Bewegung bleiben.

Unsere Offenheit für Menschen, unsere Offenheit für Veränderungen lässt es uns erleben: Menschen in Selbsthilfegruppen, das sind mehr als trockene Alkoholiker, cleane Drogenabhängige oder Eltern von Suchtkranken. Menschen in Selbsthilfegruppen Suchtkranker und ihrer Angehörigen sind Men-schen auf dem Weg. Sie brauchen kein Suchtmittel mehr, um ihr Leben zu leben, ihr Leben in Freiheit zu leben. Diese Erfahrung geben sie gerne weiter.

Der Weg in die Freiheit

Gerade im Zusammenhang mit Alkohol höre ich sehr häufig, dass in Zukunft auf Alkohol „verzichtet“ werden muss. Meistens mit bedauerndem Unterton. Und viele therapeutische Bemühungen verstehe ich auch so, dass sich Therapeuten kaum vorstellen können, dass ein Leben ohne Alkohol möglich und lebenswert ist.

Wenn wir uns einmal Gegensatzpaare anschauen: Natürlich steht der Abhängigkeit die Unabhängigkeit gegenüber. Man könnte aber auch sagen, dass der Abhängigkeit die Freiheit gegenüber steht. Viele von Ihnen haben Ihre Freiheit zurück gewonnen, sind den Weg aus der Unabhängigkeit gegangen. Kann man da von Verzicht sprechen, wenn dieser Verzicht die Voraussetzung für persönliche Freiheit ist? Es ist ein Gewinn, ein Gewinn an Leben, ein Gewinn an Lebensqualität.

Schluss

Wenn ich gefragt wurde, was ich beruflich mache und dann mit meiner Funktion antwortete, so hörte ich ganz häufig: Da haben Sie ja einen schweren Job. Mit suchtkranken Menschen umzugehen! Und ich antworte, dass es genau umgekehrt ist: Die Behandlungserfolge sind – wenn denn eine Behandlung begonnen wird, wenn Hilfe gesucht wird – so gut wie bei keiner anderen chronischen Erkrankung. Und diese Erfolgsquoten von mehr als 60 % finden wir in Selbsthilfegruppen ebenso wie in Beratungsstellen und in Fachkliniken.

Interessant dabei ist auch, dass bei allen Forschungen festgestellt wurde, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Therapiemethoden gibt – eben nur den mit der Motivation zur Abstinenz und der menschlichen Begegnung zu erklärenden Erfolg. Der verlängert wird, wenn es eine funktionierende Nachsorge gibt, und die beste Nachsorge ist der Besuch einer Selbsthilfegruppe.

Ich wünsche Ihnen allen ein weiteres Jahr bis zum 2. Suchtselbsthilfetag mit den gleichen Erfolgen wie bisher. Immer wieder neu zu beginnen. Hermann Hesse beginnt sein Gedicht „Stufen“ „Denn je-dem Anfang wohnt ein Zauber inne“ und beendet es mit dem Satz: „wohl an denn Herz, nimm Ab-schied und gesunde.“ In dem Raum dazwischen leben und sterben wir, freuen uns unbändig, halten Schmerzen aus, bauen auf, verzweifeln und sehnen uns nach immer dem Gleichen. Nach Sinn, Freiheit und Frieden. In unserem persönlichen Umfeld und in unserer Gruppe, in unserer Gemeinschaft und bei unseren Weggefährten erleben wir, dass sich diese Sehnsüchte bewahrheiten.

Ich wünsche es Ihnen allen von ganzem Herzen.

 

Anschrift des Verfassers:

Rolf Hüllinghorst

Praxis für Kommunikation und PolitikBeratung

Loheide 29 b

33609 Bielefeld

Forum 1 Kriterien guter Kooperation und Vernetzung von Suchtselbsthilfe und Fachdiensten

Der Eine muss vom Anderen wissen

Wir kommen dem Ziel der Zusammenarbeit zwischen Suchtselbsthilfe und Suchthilfe dann näher, wenn es gelingt, die beiden Hilfesysteme so aufeinander zu beziehen, dass die verschiedenen Hilfeansätze und deren Angebote die Menschen besser erreichen, unter Wahrung der jeweiligen Identität von Suchtselbsthilfe und beruflicher Suchthilfe.

Nach zwei Kurzreferaten von Birgit Wieland (Referentin im Diakonischen Werk Württemberg) und Manfred Geiger (Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfegruppen für Suchtkranke e.V. Region Heilbronn-Franken) wurde in Arbeitsgruppen zusammentragen, welche Handlungsschritte notwendig sind um den fachlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen einer Kooperation gerecht zu werden.

Die Arbeitsgruppen

1. Was haben die Beteiligten davon, wenn sie kooperieren?

2. Welche Wünsche hat die Suchtselbsthilfe an die Suchthilfe?

3. Wo und wie findet die Zusammenarbeit zwischen Suchtselbsthilfe und beruflicher Suchthilfe bereits statt?

4. Wo sind Veränderungen und Weiterentwicklungen in der Zusammenarbeit zukünftig möglich und / oder erforderlich?

Ergebnisse der AG 1: Was haben die Beteiligten davon, wenn sie kooperieren?

  • Die Kooperationspartner bleiben in Bewegung durch eine sich gegenseitig befruchtende Beteiligungskultur.
  • Höhere Selbstkontrolle / Zufriedenheit / Sicherheit der Helfer.
  • Schulung und Supervision / voneinander lernen und sich dadurch besser verstehen.
  • Gegenseitige Vermittlung der Hilfesuchenden.
  • Die gemeinsame Bewertung von Versorgung, Ausbildung und Einbindung in das Qualitätsmanagement schafft neue Möglichkeiten und Räume.

Ergebnisse der AG 2: Welche Wünsche hat die Suchtselbsthilfe an die
Suchthilfe?

Die professionelle Suchthilfe sollte die Selbsthilfe unterstützen

  • Durch infrastrukturelle Hilfen (Räume, Bürotechnik etc.).
  • Durch Begleitung im Bereich der Weiterbildung und Praxisbegleitung für Interessierte und Multiplikatoren.
  • Die professionelle Suchthilfe, die Hauptamtlichen, die Funktionäre der Selbsthilfeverbände müssen sich mehr an der Basis orientieren, sie müssen Dienstleister und Unterstützer der Gruppen sein und diese entlasten von bürokratischen und organisatorischen Dingen.
  • Beim Aufbau und Ausbau von Suchtselbsthilfe in strukturschwächeren Gebieten.
  • Beim Aufbau von Selbsthilfegruppen für bestimmte Personengruppen, die zumindest zeitweise eine besondere Form von Unterstützung brauchen, wie beispielsweise junge suchtkranke Menschen oder Betroffene „neuer Süchte“.

Ergebnisse der AG 3: Wo und wie findet die Zusammenarbeit zwischen Suchtselbsthilfe und beruflicher Suchthilfe bereits statt?

  • In Psychosozialen Beratungsstellen, Reha-Kliniken und in kommunalen Suchthilfenetzwerken.
  • Durch Unterstützung von Betroffenen bei der Suche nach geeigneten Gruppen, durch Vorstellung der Suchtselbsthilfe und ihrer Hilfsangebote in Rehabilitationskliniken und Entgiftungsstationen.
  • Durch Abhaltung von Gruppenstunden in Räumen der Beratungsstellen.

Ergebnisse der AG 4: Wo sind Veränderungen und Weiterentwicklungen in der Zusammenarbeit zukünftig möglich und / oder erforderlich?

  • Wenn die Zusammenarbeit über eine Bekanntmachung der Angebote und Kontakte der Suchthilfe und Suchtselbsthilfe über das Suchthilfesystem hinausgeht, z.B. im medizinischen und betrieblichen Bereich.
  • Ohne Wissen und Kenntnis vom Anderen geht es nicht. Notwendig ist deshalb gegenseitige Offenheit in der Vermittlung.
  • Bei systematischen und verbindlichen Formen des gegenseitigen Informationsaustauschsund gemeinsamer Durchführung von Maßnahmen und Aktivitäten.
  • Gemeinsame Planung, Entwicklung, Begleitung und Durchführung neuer Angebote, die im Bereich der frühen Hilfen, der Hilfen für Medikamenten-abhängige, für ältere Suchtkranke, für junge Menschen wie auch für Menschen mit Migrationshintergrund entstehen.
  • Die Beteiligung der Suchtselbsthilfe muss auf gleicher Augenhöhe zwischen professionell Helfenden und den ehrenamtlich Engagierten geschehen.

 

Manfred Geiger

Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfegruppen für Suchtkranke e.V.

Region Heilbronn-Franken

 

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Forum 3: Qualitätsmerkmale der Selbsthilfe

Qualitätsmerkmale. Was löst dieser Begriff aus? Vielleicht erinnern Sie sich an Arbeitsabläufe in Industrie und Wirtschaft, die gespickt sind mit Begriffen wie DIN-ISO-Normen, Audit, Zertifizierung, Qualitätsmanagement etc. Dabei wird „Qualität“ in unserer Gesellschaft verknüpft mit Leistung und Konkurrenz. Und sie garantiert Position, Status und Profit.

 

Doch nicht nur in Industrie und Wirtschaft sind diese Begriffe Alltagssprache geworden, sondern inzwischen auch in der hauptamtlichen Suchthilfe, denn auch da geht‘s um DIN-ISO-Normen, Audits und Zertifizierung. Auch da geht’s um Qualitätsstandards, die erfüllt sein müssen, damit die Akzeptanz der Politik gegeben ist und die Gelder der Kostenträger fließen. Auch da geht’s um Wirtschaftlichkeit und den neuesten wissenschaftlichen Standard. Auf da läuft Konkurrenz und der Kampf um Marktanteile, denn jeder will etwas vom Kuchen des Suchthilfebudgets abbekommen.

Konkurrenz, das bedeutet: Wer kann sich behaupten, wer kann sich durchsetzen?! So läuft ein subtiles Ausleseverfahren, das allerdings wenig zu tun hat mit der Zielgruppe – den von Sucht betroffenen Menschen mit ihren Familien.

 

Wenn WIR als Suchtselbsthilfe über Qualitätsmerkmale nachdenken, müssen wir zunächst einen geeigneten Maßstab finden, an dem sich die Qualität unserer Arbeit messen lässt. Dazu gilt es die Ziele ehrenamtlichen Engagements zu klären. Und dann, wie wir diese Ziele erreichen können.

 

Was sind unsere Ziele?

Das OBERSTE Ziel ist, das eigene Leben zu stabilisieren, die Abhängigkeitserkrankung zu bewältigen, im Alltag wieder zurechtzukommen. Und DANACH wollen wir Menschen ansprechen, die als Abhängige oder Familienangehörige von Suchtkrankheit betroffen sind. Unsere Gruppen bieten eine Fülle von Experimentierfeldern, die persönliche und neue Erfahrungen ermöglichen, auch für Partnerbeziehungen und den Umgang mit Kindern.

Als Selbsthilfe wollen wir soziale Netzwerke bilden, oder einfacher ausgedrückt einfach „Freundschaften knüpfen“. Wir wollen Wege zu Abstinenz und Zufriedenheit aufzeigen, wollen Lebensfreude und Lebensqualität vermitteln. Und natürlich wollen wir auch Erwerbsfähigkeit erhalten oder neu gewinnen.

 

Um diese Ziele zu realisieren, braucht es eine lebendige Selbsthilfe, in der wir uns persönlich wohlfühlen, die unsere Alltagsthemen und Nöte auf den Tisch bringt, die Menschen neugierig macht und einlädt, die neue Hoffnung vermittelt. Meine These lautet: Wenn wir die richtigen Qualitätsmerkmale für unsere Selbsthilfegruppen und -Verbände finden, haben wir schon die halbe Miete in der Tasche.

 

 

 

Bevor ich zur Sache komme, noch zwei Vorbemerkungen:

1. Es geht mir nicht um Kommunikationsformen über die digitalen Medien, um Internet und Facebook. Diese haben zweifellos ihre Bedeutung in einer zeitgemäßen Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere um jüngere Menschen zu erreichen. Aber sie sind nur ergänzende Werkzeuge. sie entscheiden letztlich weder über die Qualität unserer persönlichen Suchtbewältigung noch über die einer Selbsthilfegruppe oder eines Verbandes.

 

2. Die Entscheidung über die Qualität der Selbsthilfe fällt auch nicht bei den Fachdiensten oder wie die Kooperation miteinander gelingt.

Wenn sie gelingt, dann sind wir von Herzen dankbar und niemand möchte sie missen. Diese Kooperation ist ein wichtiges, aber dennoch nicht entscheidendes Thema.

Für den Kostenträger Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV BW) ist es erklärtes Ziel, die Kooperation zwischen Selbsthilfe und Fachdiensten zu intensivieren, um die Patienten im Sinn der Nachsorge zu stabilisieren.

 

Doch in der Praxis sieht das leider manchmal anders aus, denn viele Beratungsstellen und Fachkliniken sind aufgrund der enger gewordenen Rahmenbedingungen so sehr mit sich selbst, der Erfüllung vorgegebener Standards und ihrem wirtschaftlichen Überleben beschäftigt, dass sie die Selbsthilfe nur noch peripher im Blick haben. Und ich kenne manchen Therapeuten, der an dieser Situation auch persönlich leidet.

 

Meine Schlussfolgerung ist, dass wir als Selbsthilfe dort kooperieren, wo es gewollt und möglich ist, dass wir uns in unserer Erwartung aber unabhängig machen von den Fachdiensten, denn DIESE werden nicht für unseren Nachwuchs sorgen können.

Solange wir dieser Tatsache hinterher trauern und die Hauptamtlichen „anjammern“, bleiben wir in eigenen Abhängigkeitsstrukturen kleben und schwächen uns selbst. Durch eine latente Vorwurfshaltung rauben wir uns letztlich selbst die Kraft.

 

 

 

Genug der Vor-Überlegungen. Ich schlage sieben Qualitätsmerkmale für unsere Selbsthilfe vor, von denen ich mir persönliche Gesundung genauso verspreche wie eine gesunde Gruppen- und Verbandskultur.

 

1. Die Beziehungsebene muss stimmen

Wir müssen uns nicht in allem einig sein, wir dürfen uns durchaus auch mal zoffen. Aber in der Mehrzahl der Begegnungen sollten wir einander gelassen in die Augen schauen können. Wir müssen uns nicht um den Hals fallen, aber gegenseitiger Respekt muss sein. Dies ist eine permanente Herausforderung sowohl im Privaten wie innerhalb der Selbsthilfe und auch gegenüber den Fachdiensten. Denn die Beziehungsebene entscheidet letztlich über Funktionieren und Qualität jeglichen Miteinanders.

 

Herr Seiter, Direktor der DRV BW und erklärter Unterstützer der Suchtselbsthilfe, meinte in seinem Grußwort beim Württemberger Treffen der Freundeskreise im Jahr 2011, dass angesichts der zunehmenden Bedeutung technischer Medien die zwischenmenschliche Begegnung und Beziehung nicht ersetzt werden könne, denn Selbsthilfe funktioniere nur dort, wo die Menschen sich kennen. DAS kann ich nur unterstreichen.

 

 

2. Ehrenamtliches Engagement muss grundsätzlich Freude machen

Freude wirkt wie ein kraftvoller Motor. Mit Freude geht einfach was. Ohne Freude dagegen ist alles mühsam und zäh. Wer Freude bei seinem Tun hat, verfügt über ausreichend Energie, um auch schwierige Etappen zu meistern.

Natürlich müssen wir uns auch durch schwierige Zeiten durchbeißen, natürlich gehört auch Frust zum Leben, aber dennoch gilt: Ehrenamtliches Engagement muss grundsätzlich Freude machen.

Aber bitte nicht verbissen und pflichtbewusst vom Kopf her: „JETZT muss aber Freude her und wehe dem, der mich daran hindert.“ Ich meine vielmehr diese Freude von innen heraus: „DAS ist meins, da steckt mein Herz drin, das inspiriert mich, da fühle ich Gänsehaut, da spüre ich Flügel.“

 

Falls Freudelosigkeit zum Dauerzustand geworden ist, sollte der Betreffende sich prüfen und eine Entscheidung treffen: Entweder er sorgt für Veränderung in seinem Alltag, damit neue Freude aufkommen kann; oder er legt sein Amt nieder und beendet sein ehrenamtliches Engagement in Verantwortung für sich selbst und in Verantwortung für die Gemeinschaft. Das ist immer noch verantwortlicher als schlechte Stimmung zu verbreiten und anderen die Motivation zu nehmen – und ihnen damit zum Bremsklotz zu werden.

 

 

3. Tue dir selbst, deiner Familie und deiner Selbsthilfegemeinschaft Gutes

Der erste Grund, warum jemand in die Selbsthilfe kommt, lautet: Ich will mit meinem Leben wieder zurechtkommen. ALLES andere kommt danach.

In der Selbsthilfe geht es darum, was dem Betroffenen dient. Und seiner Partnerschaft. Und seiner Familie. Und seiner Gruppe.

Die Frage ist nicht, ob wir in der SH „zeitgemäß“ unterwegs sind, ob wir konform mit der öffentlichen Meinung oder Fachwelt gehen – wie wir in der Öffentlichkeit möglichst professionell auftreten – wie wir Fördergelder und Spendenmittel einwerben, um möglichst viel Geld in der Kasse zu haben – wie wir die Erwartungen dieser und jener zufrieden stellen.

Vielmehr ist entscheidend, dass wir lernen, liebevoll mit uns selbst und mit anderen umzugehen, um die kommenden Wochen und Jahre gut, abstinent und clean unterwegs sind, zusammen mit den uns anvertrauten Menschen. Dann haben wir einen guten inneren Zusammenhalt, dann haben wir auch eine Ausstrahlung nach außen.

 

 

4. Teile, was du bekommen hast, dann wird sich dein Gewinn vermehren

DAS war die Dynamik der ersten Freundeskreisgruppen anno 1956, das gilt bis heute: Miteinander unterwegs sein und teilen, was man hat. Das sind z. B. Tischgemeinschaften über alle sozialen und beruflichen Grenzen hinweg, Fahrtgemeinschaften, Hilfe in Not, gegenseitige finanzielle Unterstützung – heute sagt man auch ‚Spenden‘ dazu – das ist Zeit und Manpower in praktischen Dingen beim Kohlen schleppen oder Grillfeste organisieren, oder ... ich wüsste gerne, wie viele Wohnungsumzüge durch Arbeitstrupps aus den Selbsthilfegruppen bewältigt worden sind. Ich wette, eine ganze Menge.

Durch dieses Teilen bekommt jeder ausreichend für sein Leben, durchs Teilen entwickeln sich unsere Gemeinschaften als Ganzes und werden zur Heimat für den Einzelnen.

 

„Teile, was du bekommen hast, dann wird sich dein Gewinn vermehren“. Das ist übrigens ein biblisches Prinzip (Bibel, Prophet Maleachi 3.10/AT). Ich habe diese Wahrheit persönlich schon oft erlebt. Wer sie erfahren möchte, praktiziere das Teilen über einen längeren Zeitraum. Aber VORSICHT: Beim Teilen ist die Währung des Einsatzes nicht unbedingt identisch mit der Währung des Gewinns. Dieser kommt oft über eine ganz andere Schiene zurück.

 

 

5. Bekenne dich zu deinem/eurem Suchtthema

Wer sich offen zu seinem Suchtthema bekennt, beendet ein zermürbendes Versteckspiel, lässt frische Luft und neue Klarheit in sein Leben und hat bessere Chancen für eine stabile Krankheitsbewältigung. Wer sich bekennt, kann unbefangener leben und seine Mitmenschen wissen, wie sie mit ihm dran sind. Er hat gelegentlich zwar mehr Konflikte, weil er unbequem ist, doch er wird wieder handlungsfähig.

 

Das Bekenntnis zur Suchterkrankung hat viele positive Auswirkungen für den Einzelnen wie auch für unsere Gemeinschaften: Es ist Selbstschutz und Festigung der Abstinenz, es stärkt die Persönlichkeit, es ermutigt für Mitarbeiter- und Leitungsaufgaben, es ist gelebte Öffentlichkeitsarbeit und hilft dem Nachbarn und Kollegen, sich irgendwann der eigenen Not zu stellen und Hilfe anzunehmen.

 

 

6. Selbsthilfe ist eine Erzählkultur, eine ‚Erzählgemeinschaft’ (Rolf Hüllinghorst)

Das Geheimnis eines gelingenden Gruppenabends liegt nicht im Diskutieren, im Andere-überzeugen-wollen, rhetorisch-besser-sein, Interessen-durchsetzen, bessere-Argumente-haben oder andere-belehren. Vielmehr geht es darum, sich gegenseitig zu erzählen, was man erlebt hat, was einen beschäftigt, wie man mit diesem und jenem zurechtkommt – oder auch nicht. Erzählgemeinschaft bedeutet: Ich erzähle von mir, du von dir, und jeder nimmt sich vom andern das, was er brauchen kann. In großer Freiheit und Eigenverantwortung.

Für diese Erzählgemeinschaft empfehle ich ein Verhältnis von 2x hinhören und 1x erzählen nach der Volksweisheit „Gott hat schon gewusst, warum er uns zwei Ohren und nur einen Mund gegeben hat“. Dieses Verhältnis ist auch hilfreich für unsere Partnerbeziehungen.

 

Um diese Erzählgemeinschaft leben zu können, brauchen wir eine Haltung der Neugierde und Lernbereitschaft. Und das auch dann noch, wenn du schon 15 oder 20 Jahre trocken und dabei bist. Und auch dann, wenn du bald 70 Jahre alt wirst. Wer – im Gegensatz dazu – mit der Haltung des „Wissenden“ in der Gruppe sitzt, der hört nicht mehr richtig zu, weil er eh schon alles weiß. Und wer nicht mehr richtig zuhört, kann auf andere nicht mehr richtig eingehen – und damit blockiert er die Offenheit und den Austausch in der Gruppe.

 

 

7. Als Freunde und Weggefährten kümmern wir uns umeinander – wir gehen einander nach, wir sind einander anvertraut

Das Wohl des andern war von Beginn an zentrales Anliegen der Freundeskreise. Wenn da einer gefehlt hat in der Runde, wurde nachgefragt, wo er denn geblieben war. Und da wurden unzählige Hausbesuche gemacht. Das ging so weit, dass unser Gründervater Karl Votteler von Reutlingen am Freitagabend zu einem ganz bestimmten Fabriktor ging, weil dort ein Freund aus der Gruppe mit gefüllten Lohntüte rauskommen würde. Und dieser Freund war neu in der Gruppe und noch nicht stabil in Sachen Abstinenz. Als dieser Freund dann durch das Fabriktor kam, bekam sein gewohnter Freitagabend-Weg plötzlich einen Knick, denn am Karl kam er nicht vorbei. Und wo er bisher nach links abgebogen war zur nächsten Kneipe und dort seine Lohntüte erleichterte, musste er jetzt dank Karl nach rechts abbiegen. Und gemeinsam gingen sie heim zur Familie dieses Freundes. Und die Frau wusste, dass sie die kommende Woche NICHT am Hungertuch nagen mussten.

 

Es gibt eine Haltung in der Selbsthilfe, die mir gelegentlich begegnet und große Sorge bereitet. Es ist die Haltung: „Wer was will, soll sich melden, der soll selbst kommen. Er weiß ja, wo wir zu finden sind.“

Das mag ja etwas Richtiges dran sein, aber ich karikiere mal, um deutlich zu machen, um was es mir geht. Im Umkehrschluss hört sich das nämlich SO an: „Wer sich nicht meldet oder einfach wegbleibt, ist selbst schuld. Wer nicht will, der hat gehabt. Dem laufe ICH doch nicht hinterher. Wer nicht will, hat schon gehabt.“

Freunde, DAS ist nicht unseres, unser Selbstverständnis ist anders.

 

Freundschaft ist ein Bund, den wir miteinander geschlossen haben. Sie bedeutet Fürsorge und Schutzraum durch gegenseitige Unterstützung; sie gibt menschliche Nähe, sie bedeutet Ergänzung und Bereicherung durch die Vielfalt der Persönlichkeiten, der Begabungen, der Altersgruppen, der Kulturen und Nationalitäten. Und ein Kreis von Freunden ist auch fähig, neue Gesichter willkommen zu heißen und zu integrieren. DAS ist die Philosophie der Freundeskreise, das ist unser Erfolgsrezept, Freundschaft ganz praktisch. Das benötigen wir ALLE.

 

Freunde gehen einander nach – deshalb brauchen wir Teams, weil einer allein sich nicht um alle kümmern kann. Deshalb machen wir Ausbildungen zum Gruppenbegleiter, zum freiwilligen Suchtkrankenhelfer u. a., um uns zu schulen, „WIE“ wir das richtig machen können, dieses einander-nachgehen.

 

Diese Qualitätsmerkmale sind das Gegenprogramm zur gesellschaftlichen Zersplitterung und Auflösung. Wenn wir DAS leben, schaffen wir Inseln und Oasen, wo Gesundung für den Einzelnen möglich wird. Inseln und Oasen, wo unsere Gemeinschaften Schutzräume, Sicherheit und Orientierung fürs Leben bieten.

 

Ich bin überzeugt, dass die Verwirklichung dieser Qualitätsmerkmale für die Zukunft unserer Selbsthilfe viel entscheidender ist als demografische Entwicklungen, als gekürzte Therapiekonzepte, als Finanzfragen oder die altersmäßige Zusammensetzung unserer Gruppen. Wenn wir diese Qualitätsmerkmale leben, habe ich viel Hoffnung für die Zukunft unserer Selbsthilfegemeinschaften.

Rainer Breuninger

Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe, Landesverband Württemberg e.V.

 

 

Forum 5 Selbsthilfe gestern – heute – morgen

Einleitung

"Wer will, dass sie SO bleibt, der will nicht, dass sie bleibt!"

 

Um SH überhaupt zu verstehen, stellen wir zunächst die historische Entwicklung kurz dar. 'Trunksucht' wurde mit dem Urteil des Bundessozial-Gerichtes 1968 als Krankheit im Sinne der RVO anerkannt. Die Anfänge der Suchtkrankenhilfe sind bei den traditionellen Abstinenzverbänden zu suchen.

Sie waren die Ersten, die sich um die Trinker und ihre Familien kümmerten. Bereits im 16. Jahrhundert gab es erste 'Mäßigkeitsvereine'- Ein Dogma dieser Verein lautete, dass die Mitglieder zu den Mahlzeiten nicht mehr als 7 Becher Wein trinken sollten. Mitte des vorigen JH begann die Psychiatrie das Phänomen der Suchtkrankheit wissenschaftlich zu erforschen.

Zeitgleich ging die Innere Mission daran, Trinker zu heilen und erste Trinkerheilstätten einzurichten. Dass nur die völlige Enthaltsamkeit vom Alkohol zur Befreiung von der Sucht führen kann, wussten hingegen die Männer und Frauen, die 1877 das Blaue Kreuz gründeten. Analog zum Blauen Kreuz entstand auf kath. Seite der Kreuzbund. Die Guttempler kamen 1889 aus Amerika nach Deutschland, um Suchtkrankenhilfe zu leisten.

Freundeskreise wurden 1956 ins Leben gerufen. Sie sind zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft für SHG für Suchtkranke e.V. Region Heilbronn Franken  die jüngsten Verbände. Außerdem gibt es noch sogenannte freie Gruppen, die nicht verbandlich organisiert sind.

Wir werden in unserem Beitrag, das Eine oder Andere bewusst überzeichnen – nicht um anzugreifen oder Schuld zuzuweisen, sondern um schneller ans 'Eingemachte' zu kommen.

Wir wollen nicht mit sentimental verklärtem Blick in der Vergangenheit hängen bleiben, wir wollen uns den heutigen Erkenntnissen in Forschung und Wissenschaft nicht verschließen – wir wollen aber auch unsere Erfahrungen im Blick halten und sie nicht bedenkenlos dem Zeitgeist opfern – wir haben in unseren SH-Gemeinschaften Schätze im Laufe der erlebten Jahre und Selbstversuche anhäufen dürfen, die es gilt zu hüten


Das Gestern

Menschen mit stigmatisierendem Krankheitsbild des Alkoholismus schließen sich in Selbsthilfegruppen zusammen

Schutzräume, um mit anderen Betroffenen im Austausch zu sein       

Hauptamtliche unterstützen

Enger Schulterschluss Ehrenamt und Hauptamt  - Neuland für beide Seiten

In der Akzeptanz der Stärken und Besonderheiten und des  originären Auftrags des Andern war die Ergänzung möglich,               die den Betroffenen geholfen hat

Klare, konsequente Strukturen im Hilfesystem vermitteln Sicherheit

Der Weg der Behandlung war klar und das Ziel der endgültigen Abstinenz war klar und nicht verhandelbar.   PSB – SH -(warten auf Therapieplatz) – ein halbes Jahr Therapie - wieder Anbindung an die SH

der hilfesuchende Mensch steht ganzheitlich im Mittelpunkt öffentliches  Interesse am  Handlungsgeschehen ist gering das Erreichen einer abstinenten Lebensführung ist erklärtes Therapie-Ziel Angehörigen sind im Blick des Hilfe-Systems Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Aushalten, Erwartung entsprechen dem vorherrschenden Zeitgeist innerhalb der Gesellschaft

Das war übliche Haltung innerhalb der Gesellschaft – wir sind Kinder der Zeit und dementsprechend geprägt.

Wir wollen nicht im Gestern hängen bleiben, wir brauchen allerdings den Blick darauf, um das Heute zu verstehen

Das Heute

Nach wie vor kommen Alkoholkranke in die SH; es kommen weniger Angehörige 

Drogenkonsumenten, Mediensüchtige, Spieler und Andere kommen in den Gruppen an

Betroffene mit Doppeldiagnose sind fast die Regel

Wirtschaftliche Ausrichtung im Hilfesystem, führen zur Kürzung von Therapiezeiten und damit zu veränderten, reduzierten Therapie-Inhalten.         

Dies wirkt sich in unserer Gruppenarbeit entscheidend aus.

Die „Vorarbeit“, die für den Betroffenen und für das Miteinander in den Gruppen wichtig wäre, kann infolge der zeitlichen    Therapiezeitkürzung nicht mehr geleistet werden – fordert die Gruppen jedoch heftig heraus.

Die einst enge Bindung Ehrenamt – Hauptamt 'schwächelt'

Die Schnittstellen, die Übergänge von Beratungsstelle, SH, Kliniken und rückwärts sind nicht klar benannt und funktionieren schlecht  und müssen dringend neu definiert werde  …

eine Aussage bei einem Fachgespräch … 30 % kommen nach Reha-Aufenthalt in den Beratungsstellen an

Therapie-Angebote sind vielfältig und zum  Teil sehr ‘kundenorientiert’. Klare, zielführende Strukturen sind aus Sicht SH schlecht erkennbar

Manche Menschen brauchen auf dem Weg die wohlwollende Autorität, die für den Betroffenen denkt und es gut mit ihm meint (wir meinen, es wird oft zu sehr dem „Kundenwunsch“ entsprochen > Aufenthalt in der Tagesklinik wird dem  stat. Aufenthalt vorgezogen – die Therapiedauer wird vom Betroffenen oft als zu lang empfunden)

Ganzheitliche Ausrichtung des Therapie-Angebotes wird vermisst. Es geht vorrangig um die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit.

Angehörige von Suchtkranken werden von Teilen des Hilfe-Systems nicht mehr wahrgenommen

Unverbindlichkeit und die Neigung zum Fishing (Rosinen picken) ist spürbar

Das öffentliche Interesse am Thema Sucht  nimmt in letzter Zeit in den Medien zu.

Die geschilderten medialen Themen werden der Komplexität des Suchtgeschehens in keiner Weise gerecht.


 

Wie kommen Menschen in der Selbsthilfe an?

'Antherapiert' aus sehr verschiedenen Behandlungsprogrammen, mit unterschiedlich konsequenter Haltung

“Rückfall gehört zum Heilungsprozess” wirkt wie General-Absolution und öffnet Hintertüren

Rückfall kann durchaus zum Wachstumsprozess gehören, aber allein diese Aussage löst zunächst sehr unterschiedliche, unreflektierte Reaktionen aus – bei Familie / Angehörige panische Angst – bei dem noch wenig motivierten Betroffenen die laxe Haltung – wie viel Schuss hab ich noch frei – wie viel kann ich noch trinken

Orientierungslos – ziellos

Das Ziel ist nicht definiert – es ist vielfach nicht benannt, dass es ein Ziel gibt – nämlich die Abstinenz – Die Frage ist, ob es einfacher ist, auf dem Weg immer wieder ein nächstes erreichbares Ziel zu definieren oder eine Entscheidung zu treffen ein Ziel zu definieren und daran zu arbeiten, dieses Ziel zu erreichen. 

Zitat: Erst wenn etwas möglich erscheint, ist Entscheidung möglich

Die Gruppe kann helfen, diese Möglichkeit in den Bereich des Machbaren zu rücken!

Verunsichert, anerkennen selten ihren inneren Widerstand

Beispiel aus Erzählung der Betroffenen – erst nach 4 Monate Ringgenhof wurde klar, dass es nicht um meinem Therapeuten oder meine Frau … oder meinen Arbeitgeber geht ….. sondern es geht um mich ..und dann wurde mir die Zeit zu knapp …. und so motiviert und offen … man möchte fast sagen 'geöffnet' kamen die Menschen in der SH an …. dazu müssen heute die Menschen in der SH erst reifen um zu diesen Einsichten zu gelangen – das sind immense Herausforderungen an das Ehrenamt und stellt hohe Anforderungen an die Gruppe.

 

Fehlendes Erkennen auf eine grundlegende notwendige Veränderung – Abstinenz ist mehr als nüchtern zu sein – In passiver Erwartungshaltung

Leben ist mehr als Abstinenz

ist nicht unbedingt schlecht – zeigt sie doch, dass die Menschen, die in der SH ankommen etwas wollen.... aber sie wissen nicht, was sie sich im Selbstbedienungsladen holen wollen

Ich geh in den Laden –  ich weiß aber nicht was ich da soll und schon gar nicht, was ich will.


 

Was erwarten Neuankömmlinge von der Gruppe?

Die Erwartungen reichen von Nichts bis Alles

Ein Rezept, wie es geht .....  “wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ 

Wie kann ich kontrolliert trinken

Gib mir den Ratschlag, wie geht  'selbstbestimmtes' Leben

Wie lebe ich weiter, ohne den Makel der Sucht – “darüber reden wir jetzt nicht mehr!”

 

Was erwartet die Gruppe von den neuen Besuchern?

Dass sie sich einlassen - Angebote annehmen

Bereitschaft Eigenverantwortung zu übernehmen

Einsicht zu Veränderungen

Ehrliche Haltung gegenüber der eigenen Person 

 

Wozu lädt SH ein?

Nicht nur - Probleme und Sorgen zu teilen, sondern auch Erfolge und Gelingen zu teilen

Leben im Gesamten zu teilen

heißt – Leben ist mehr als Abstinenz, mehr als Erwerbsfähigkeit, mehr als Arbeit, mehr als Freizeit – mehr als………..              (alles was folgt ist austauschbar)

Einüben von wiederentdeckter sozialer Kompetenz und Möglichkeit der Lebensgestaltung

(Neue) Freunde finden, die mich verstehen

          für Drogenabhängige ein Muss 


 

Such Dir Deinen Platz hier und überall dort, wo dir weitergeholfen wird 

Fühl Dich o.k.

Du bist nicht allein – Du bist Teil von uns

Der Weg lohnt sich – Der Gewinn in der Abstinenz ist größer als der Verzicht

Die 'Gesundung' beschränkt sich nicht nur auf den Betroffenen, sondern zieht Kreise und schließt sein gesamtes soziales Umfeld mit ein 

… genauso wie die Zeit der Abwärtsspirale der Sucht das gesamte Umfeld einbezieht profitiert das gleiche System auch umgekehrt von dem Gesundungsprozess … ja es wirkt darüber hinaus und mündet in eigene Einsichten von Defiziten und Änderungswünschen und dem daraus resultierenden Handlungsbedarf

 

Wo liegen die Stärken der SH?

Aus dem Berichten der Gruppenteilnehmer nimmt sich jeder, was er für sich braucht

Beziehung und Freundschaft wird angeboten

Beziehungen wirken nachhaltig – sie sind auf Dauer angelegt

Begegnung auf Augenhöhe – nicht Berater und Klient sondern .... Freunde

Um Freunde kümmert man sich, denen „läuft man auch nach“ Freunde helfen sich – auch im Alltag,      z. B. beim Umzug.

 

Wo liegen die Grenzen der  SH?

Wir sind keine Therapeuten!!

Wir verweisen auf Fachleute, die helfen können.

Die Grenze ist auch dort erreicht, wo der Gruppenteilnehmer sich bewusst gegen unser Angebot entscheidet.

Wir „zwingen“ niemanden, am Glücklich-sein teilzunehmen


 

Wo liegen die Herausforderungen des Heute?

In der Tatsache, uns den veränderten Bedingungen zu stellen, sie ernst zu nehmen  und  uns dennoch treu zu bleiben

Im „Nicht-in-Frage stellen lassen“ dessen, was unser Überleben sichert

Wir stehen in dem permanenten Prozess: Altes zu erhalten und Neues zu gestalten

Im selbstbewussten Abgrenzung gegen .........

Im Anspruch, die Balance zu halten zwischen unserer Originalität und den Ansprüchen und den Verlockungen; es lockt, zu den „Großen“ zu gehören.

Nicht zu Dienstleistern / Handlungsgehilfen des Systems zu werden

Unsern Schatz zu hüten und gleichzeitig mit ihm zu „handeln“, indem wir auf die Herausforderungen des Heute eine Antwort finden, gestalten wir die Grundlage für das Morgen!

Unsern Schatz zu hüten, nicht indem wir unseren Schatzkisten-Deckel zumachen, sondern ihn weit öffnen

Auf die vielen Neuerung von außen in angemessener Weise zu reagieren heißt ihre Sinnhaftigkeit für unsere Belange zu prüfen und sie evtl. mit aufnehmen (in unsere Schatzkiste) oder Stellung zu beziehen

Stichworte : Kontrolliertes Trinken, Online-Beratung …. 


 

FAZIT:

Selbsthilfe lebt

Selbsthilfe darf sich ihre Unabhängigkeit bewahren

Selbsthilfe darf nicht unter den Druck wirtschaftlicher Interessen geraten

Selbsthilfe muss definierte Werte leben und diese in die Gesellschaft tragen

Selbsthilfe wirkt nachhaltig über Jahre hinweg

Selbsthilfe ist für viele die beste Medizin

Selbsthilfe ist die beste (Über-)Lebensversicherung

Die Voraussetzungen haben sich verändert – geblieben ist das Angebot der Suchtselbsthilfe, das Angebot von Freundschaft, von tragfähigen Beziehungen – langfristig – unbegrenzt. Grundlagen einer nachhaltigen Sicherung der Lebensqualität der von Sucht betroffenen Menschen!

Suchtselbsthilfe – unverzichtbarer Teil der Versorgungsstruktur!

 

 

Miteinander in Bewegung -

Das Morgen beginnt mit dem Gestern!

 

Hildegard Arnold / Ursel Biskup

Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe

Landesverband Württemberg e.V.

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