Vor gut zwei Jahren hat das Sozialministerium eine Initiative gestartet zur Entwicklung kommunaler Suchthilfenetzwerke. Mit dieser Initiative soll die in der Suchtkrankenversorgung schon immer unumgängliche vielfache fachliche Vernetzung weiter vertieft und im Interesse effizienter Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen verbindlich gestaltet werden. Das Sozialministerium hat vor wenigen Wochen den zwischenzeitlich erreichten Stand dieser neuen Entwicklung bei den
Stadt- und Landkreisen erfragt.
Für die „Baden Württembergische Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfe- und Abstinenzverbände“ (BWAG) war diese Initiative Anlass, sich intensiver mit dem erwartbaren Spannungsfeld zwischen einerseits einer kostenneutralen Optimierung von Behandlungs- und Betreuungsleistungen und andererseits der notwendigen Berücksichtigung von Betroffeneninteressen zu befassen. Hilfen für suchtkranke Menschen sind ja in ganz besonderem Maße auf die Mitwirkungs- und Veränderungsbereitschaft der Suchtkranken und der Personen ihres sozialen Umfelds angewiesen. Keine noch so stringente Behandlungs- oder Schnittstellenplanung kann das Problem von Suchtmittelrückfällen und Betreuungsabbrüchen aus der Welt schaffen. Darüber hinaus legen die Regelungen des SGB IX (insbesondere §9 SGB IX - Wunsch- und Wahlrecht und §13,6 SGB IX - Beteiligung der Betroffenen an den Gemeinsamen Empfehlungen) eine systematische Berücksichtigung auch von Betroffenenperspektiven in Prozessen der Versorgungs- und Hilfeplanung nahe.
Vertreter von Suchtselbsthilfegruppen sind entgegen vieler Annahmen nicht schon automatisch auch für Fragen der Versorgungsplanung qualifizierte Betroffenenvertreter. Angesichts vielfältiger Anforderungen von Behörden, Einrichtungen, Betrieben und nicht zuletzt den Rehaleistungsträgern erlebt sich die Suchtselbsthilfe zunehmend in der Rolle eines ehrenamtlichen, aber unverzichtbaren Leistungserbringers und muss von daher immer wieder um die eigene Identität als originäre Selbsthilfe und um das eigene fachliche Profil ringen. Der Bezug auf den Schatz der jeweils persönlichen Krisen- und Hilfeerfahrungen grenzt dabei fast zwangsläufig den Blick ein bei der Beurteilung auch ganz anderer oder als nicht hilfreich erlebter Versorgungskonzepte.
Auf Anregung des Diakonischen Werks Württemberg (DWW) hat die BWAG, der die meisten Verbände der Suchtselbsthilfe im Lande angehören, deshalb im vergangenen Jahr ein Projekt gestartet, mit dem gezielt Mitarbeiter der Suchtselbsthilfe für eine Mitwirkung als Betroffenenvertreter in Kommunalen Suchthilfenetzwerken qualifiziert werden sollen. Dieses Projekt wird über das DWW von der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg finanziell unterstützt.
Das Konzept in aller Kürze:
Betroffenenvertreter sind langjährig erfahrene Mitglieder der Suchtselbsthilfe, die durch dieses Engagement eben auch intensiv vertraut sind mit den Nöten und Bedürfnissen der Hilfesuchenden und mit den Grenzen und Lücken der bestehenden Hilfestrukturen und –möglichkeiten.
Selbsthilfevertreter sind in der Regel gebunden an die Gegebenheiten ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte, ihrer eigenen Gruppen und des örtlichen Hilfesystems, mit dem sie oft schon viele Jahre als Betroffene und als Vertreter der Selbsthilfe eng verbunden sind. Sie vertreten die Interessen der Selbsthilfegruppen vor Ort. Betroffenenvertreter dagegen sollen im Planungsprozess der Landkreise übergreifend die Hilfe- und Versorgungsbedarfe aller Menschen mit Suchtproblemen und deren Angehörigen im Blick haben, und zwar unabhängig von bereits bestehenden Versorgungs- und Hilfeangeboten und unabhängig vom Mitwirkungspotential der Suchtselbsthilfe vor Ort.
In unserem Projekt sollen deshalb Betroffenenvertreter ganz bewusst in ihrer Funktion möglichst nicht in ihrem Heimatlandkreis eingesetzt werden, um so unabhängig von persönlichen Loyalitäten, unabhängig von den Angeboten und Grenzen bestehender örtlicher Kooperations- und Versorgungsstrukturen und auch unabhängig von den Beteiligungsmöglichkeiten der örtlichen Selbsthilfegruppen in allen Hilfe- und Versorgungsbereichen die Interessen von Betroffenen und ihren Angehörigen zu verdeutlichen. Betroffenvertreter ergänzen so in einer klaren Aufgabenteilung das Engagement und die Planungsmitwirkung der Suchtselbsthilfegruppen vor Ort.
Betroffenenvertreter unterstützen und ergänzen ausschließlich die meist schon seit Jahren praktizierte Beteiligung der Suchtselbsthilfe an kommunalen Planungsprozessen. Über diese Aufgabe hinaus sind sie jedoch keine Patientenvertreter, keine Ombudsleute, keine Krisenmanager und auch kein Ersatz für die Servicestellen nach dem SGB IX. Die TeilnehmerInnen am Projekt sind verbindlich eingebunden in eine Arbeitsgruppe, die inzwischen zentrale Entwicklungsforderungen aus Betroffenenperspektive vorgelegt hat und sich regelmäßig zur weiteren fachlichen Schulung und Praxisbegleitung trifft.
Die BWAG der Suchtselbsthilfe lädt Sie als kommunalpolitisch Verantwortliche ein, bei der Gestaltung des Kommunalen Suchthilfenetzwerks in Ihrer Stadt / Ihrem Landkreis das für Sie kostenlose Knowhow von Betroffenenvertretern einzubeziehen und damit auch bundesweit ein wichtiges Signal in Sachen Partizipation von Hilfebedürftigen im Sinne des SGB IX zu setzen. Gerade auch im Hinblick auf die ab nächstem Jahr verbindlichen Regelungen zum Persönlichen Budget scheint es uns dringend geboten, eine Verbesserung von Versorgungsstrukturen so zu gestalten, dass gleichzeitig eine umfassende fachliche Qualität und eine hohe Akzeptanz und Mitwirkung bei den Betroffenen erreicht werden können.
Wir sind gespannt, in welchem Ausmaß wir mit dem Projekt Betroffenenvertreter zu einer solchen konstruktiven Entwicklung beitragen und damit auch unser ganz persönliches Anliegen in der Suchtselbsthilfe vertiefen können. Für weitere Absprachen wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle der BWAG (diese ist angesiedelt bei den Freundeskreisen für Suchtkrankenhilfe, Landesverband Württemberg e. V.).
Mit freundlichem Gruß!
Michael Haug
1. Vorsitzender
Anlage zum Schreiben an die Stadt- und Landkreise
Anhang
Wesentliche Orientierungen von BetroffenenvertreterInnen für die Gestaltung regionaler Hilfe- und Versorgungsstrukturen
Die Projektgruppe Betroffenenvertreter hat sich nach eingehender Befassung mit den Kriterien des Sozialministeriums für die Entwicklung kommunaler Suchthilfenetzwerke und aufgrund der eigenen überregionalen Erfahrungen in der Suchtselbsthilfe einvernehmlich auf die nachfolgenden Eckpunkte verständigt, auf die BetroffenenvertreterInnen in kommunalen Planungsprozessen achten sollten. Diese „Orientierungen“ sind ein vorläufiger Stand der fachlichen Verständigung und müssen deshalb regelmäßig überprüft und ggfs. auch erweitert werden.
1. Rasche Erreichbarkeit qualifizierter Hilfen
- Rund um die Uhr Möglichkeit einer einheitlichen telefonischen Krisenberatung bei suchtmittelbezogenen Störungen.
- Die Inanspruchnahme jeder Art von Hilfe (z.B. Hilfen in medizinischen Krisen, soziale / materielle Hilfen, Telefonhotline) muss einen möglichst personalen Zugang zum regionalen Suchthilfesystem ermöglichen; dies gilt insbesondere bei bereits bestehenden anderweitigen Betreuungen im Suchthilfesystem (Vernetzung von Hilfen). Als Mindestmaß muss unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Regelungen die Information über die Inanspruchnahme einzelner Hilfen allen Mitbeteiligten bekannt gemacht werden können, um qualifizierte und effiziente Betreuungsprozesse zu unterstützen.
- Es muss eine transparente und verbindliche Regelung für suchtmittelbezogene Notfallaufnahmen geben, auch bei relevanten psychiatrischen Begleitstörungen; für suchtbedingte Notfallaufnahmen von Kindern und Jugendlichen muss es ein verbindliches Kriseninterventionskonzept geben, in das die Erziehungsberechtigten konsequent einbezogen werden.
- Es muss klare und praxistaugliche Regelungen zum Schutz der Angehörigen bzw. Bezugspersonen (auch Kinder) bei gewalttätigen oder gewaltbedrohten Konflikten geben; gleiches gilt für Suchtkranke, die bereits Maßnahmen der Suchtmedizin / Suchthilfe nutzen, bei denen aber weiterhin aufgrund ihrer bisherigen Entwicklung mit suchtbedingten Verhaltensauffälligkeiten gerechnet werden muss (z.B. Substitution mit Beikonsum).
- Auch bei Nutzung sektoraler (z.B. medizinischer) Hilfen muss eine ganzheitliche Erfassung der Lebenssituation und Entwicklungsmöglichkeiten des Betroffenen in medizinischer, psychosozialer, familiärer oder materieller Hinsicht gewährleistet werden.
2. Maßnahmen zur Früherreichung
- Alle Maßnahmen zur Vermeidung von Chronifizierung müssen so gestaltet werden, dass sie von den Betroffenen / Angehörigen als möglichst wenig stigmatisierend und abschreckend erlebt werden.
- Durch eine einzelfallunabhängige Vernetzung der regionalen Versorgungsstrukturen muss sichergestellt werden, dass bei allen direkt oder indirekt sozial auffälligen Störungen auch konsequente Interventions- und Hilfeangebote zur Abhängigkeitsproblematik gemacht werden können.
- Maßnahmen der Früherreichung setzen eine differenzierte regionale Suchtberichterstattung voraus, die die Relevanz substanzbezogener Störungen in gesundheitlicher oder sozialer Hinsicht in konkreten Handlungsfeldern verdeutlicht und so Ansatzpunkte für erfolgreiche Frühinterventionen schafft.
3. Suchtbezogene Hilfen sind nicht nur im Interesse des einzelnen Hilfebedürftigen, sondern sind von gesellschaftlichem Interesse
- Eine entsprechende Dienstleistungsorientierung (Daseinsfürsorge) muss suchtbezogene Hilfen vorhalten auch unabhängig von der konkret artikulierten Hilfebedürftigkeit und Veränderungsbereitschaft der Betroffenen / Angehörigen.
- Vorrangig sollen diejenigen Hilfen erbracht werden, die den Betroffenen eine unmittelbar erfahrbare Verbesserung ihrer Lebensqualität ermöglichen und sichern; damit ist erfahrungsgemäß auch die höchste Funktionalität solcher Hilfen für die öffentliche Hand verbunden.
- Wohnortnahe Hilfen als Chance zur Nutzung noch vorhandener sozialer Integration sind grundsätzlich zu unterstützen. Die Suchtdynamik kann es jedoch notwendig machen, dass bestehende dysfunktionale soziale Netzwerke aufgelöst oder verlassen werden müssen.
- „Hilfe wie aus einer Hand“ darf nicht nur eine formale Orientierung der Leistungserbringer zur kostengünstigeren Gestaltung ihrer Hilfen sein, sondern muss für die Betroffenen erlebbare Betreuungsqualität sein.
- Finanzielle Forderungen an die Hilfeempfänger (Kostenbeteiligungen) dürfen nicht die Inanspruchnahme notwendiger Hilfen durch den Betroffenen behindern oder risikosteigernd verkürzen.
- Alle Hilfeleistungen müssen angesichts des suchttypischen Rückfallrisikos regelhaft über den Zeitpunkt eines definierten Behandlungs- / Betreuungsendes hinausgehend konzipiert und in geeigneter Form zur Verfügung gestellt werden im Sinne einer stabilisierenden Nachsorge. Die ergebnisorientierte Wirksamkeit von Hilfeangeboten ist durch geeignete einrichtungsübergreifende Verlaufsbeobachtungen regelmäßig zu untersuchen.
- Der Ausbau von Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des ersten Arbeitsmarktes ist unverzichtbar, um besonders auch den chronifiziert abhängigkeitskranken Menschen bei einer beruflichen und damit sozialen Reintegration langfristig zu helfen.
4. Hilfeangebote für Abhängigkeitskranke bewegen sich immer im Spannungsfeld zwischen konstruktivem sozialem Druck und der Eigenverantwortung der Betroffenen
- Suchthilfe will den Betroffenen für Veränderungen gewinnen. Dabei hat sie jedoch nicht die Aufgabe, sozialen Druck von ihm abzuwenden, sondern ihm vielmehr die soziale Relevanz seines Suchtmittelmissbrauchs zu verdeutlichen und gleichzeitig seine Menschenwürde zu wahren.
- Suchtmittelrückfälle dürfen als Teil der Krankheitssymptomatik nicht Auslöser von existentiell bedrohlichen Sanktionsmaßnahmen sein, sollten aber zur Veränderung von Hilfeangeboten führen.
- Menschen im sozialen Umfeld des Abhängigkeitskranken brauchen genauso Unterstützung wie der Betroffene in Form von eigenen Angeboten.
- Über die Einbeziehung von Bezugspersonen in Behandlungsmaßnahmen entscheidet jedoch der Betroffene; seine Bereitschaft dazu darf nicht Behandlungsvoraussetzung sein.
- Professionelle Hilfe und Selbsthilfe kooperieren, sind jedoch in ihren Verantwortlichkeiten nicht zu vermischen. Selbsthilfe ist grundsätzlich auf Freiwilligkeit angewiesen, es darf deshalb keine nachweispflichtige oder sanktionsbewehrte Zuweisung geben; ggfs. muss die professionelle Suchthilfe die erforderlichen Gruppenangebote selber organisieren.
- Auch eine erfolgreiche medizinische oder soziale Stabilisierung der Betroffenen, die sich auf den dauerhaften Konsum psychotroper Ersatzstoffe gründet, ist noch nicht ausreichend. Jeder Abhängigkeitskranke muss – unabhängig von der Wahrscheinlichkeit einer individuellen Suchtmittelabstinenz - dauerhaft Chance und Herausforderung zur umfassenden Bewältigung seiner Abhängigkeit erhalten.
5. Qualifizierte und nachhaltige Suchthilfe schließt auch die Gestaltung des öffentlichen Raumes sowie von Wohn- und Lebensräumen Suchtgefährdeter ein
- Nach gängigem Verständnis der Suchthilfe ist eine Suchtentstehung bedingt durch die Faktoren Substanz/Droge, die Person des Betroffenen und die soziale Umwelt. Wirksame Suchthilfe muss daher immer auch die Gestaltung der sozialen Umwelt im Blick behalten.
- Suchthilfe braucht Maßnahmen der Suchtprävention. Suchtprävention als pädagogische Intervention muss sich dem ergebnisorientierten Vergleich verschiedener Handlungskonzepte stellen; dabei muss insbesondere bei Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter die Komplexität sozialer Interventionen berücksichtigt und eine pädagogisch fragwürdige Verkürzung der Forderung nach Ergebnisorientierung vermieden werden.
- Maßnahmen der Verhältnisprävention dürfen sich nicht nur in Verboten und gesetzlichen Regelungen erschöpfen, sondern müssen immer auch die Lebenswirklichkeit bereits abhängigkeitskranker Menschen mitberücksichtigen und Maßnahmen zu deren konstruktiver Beeinflussung und Unterstützung beinhalten.