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Handbuch

Krankheitseinsicht / Veränderungsmotivation

Mit Krankheitseinsicht bezeichnet man die Bereitschaft des Patienten, die eigenen Beschwerden und Leiden / Verhaltensauffälligkeiten als Bestandteil und Auswirkung einer Störung mit Krankheitswert zu verstehen. Während dies bei organischen Störungen in aller Regel kein Problem ist (eine fiebrige Grippe wird wohl jeder als Teil einer Erkrankung verstehen), ist eine Krankheitseinsicht bei Verhaltens- und Erlebensstörungen oft sehr viel schwieriger, weil sie das Eingeständnis des Verlusts der eigenen Steuerungs- und Kontrollfähigkeit beinhaltet. Andererseits spüren / wissen viele abhängige Menschen recht genau, dass und wann sie die eigene Kontrolle über ihren Suchtmittelkonsum und ihre damit verbundenen Verhaltensweisen verloren haben.

 

Die in der Selbsthilfe und in Behandlungsmaßnahmen vielfach geforderte Krankheitseinsicht konfrontiert aber bei Abhängigkeitserkrankungen auch mit der sozialen Destruktivität des eigenen Verhaltens, das durch eine eigene Verhaltensneuentscheidung, den partiellen oder vollständigen Konsumverzicht – anders als bei sonstigen psychischen Erkrankungen – weitestgehend gestoppt werden könnte. Die Einsicht in und das Verstehen der eigenen Krankheitsentwicklung und Störungsausprägung führt insofern zu einer ganz individuellen inneren Schuldanerkenntnis: es muss um die Einsicht in die ganz eigene Krankheitsdynamik und Krankheitsgeschichte gehen und eben nicht nur um das „Nachbeten“ medizinischer Lehrsätze.

 

Krankheitseinsicht meint bei Abhängigkeitsstörungen die Anerkenntnis des chronischen Charakters einer Störung und damit des langfristigen Risikos eines sog. Rückfalls. Sucht ist eben nicht durch eine einmalige Behandlung schon ausreichend überstanden, sondern macht langfristige eigene Verhaltensneuentscheidungen erforderlich. Flapsig formuliert ist die Anerkennung der eigenen Abhängigkeit fast so etwas wie ein Ehegelöbnis: man kann sich nur um den Preis wesentlicher Krisen wieder daraus zu lösen versuchen und das „Eheversprechen“ muss immer wieder neu verlebendigt werden.

 

Die Forderung nach einer solchen Krankheitseinsicht hat in der Suchthilfe und in der Suchtselbsthilfe seit langem eine manchmal problematische Eigendynamik angenommen: was letztlich Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Störungserfahrung und damit Bestandteil einer Suchtbehandlung sein sollte, wird bisweilen als Behandlungsvoraussetzung oder als Eintrittskarte in die Selbsthilfe verstanden (obwohl die Selbsthilfe sich in ihren Grundsätzen dazu bekennt, auch für Menschen ohne Krankheitseinsicht offen zu sein!). Krankheitseinsicht wird so zum Prüfstein für die Änderungsbereitschaft des einzelnen Klienten (und damit teilweise auch zur Voraussetzung für die Kostenübernahme für Behandlungsmaßnahmen!); die Feststellung einer fehlenden Krankheitseinsicht kann aber auch Ausdruck dafür sein, dass es nicht gelungen ist, das konkrete Interesse des Klienten / Gruppenteilnehmers wirklich zu verstehen. Der Verweis auf eine fehlende Krankheitseinsicht ist insofern weder hilfreich noch sozialleistungsrechtlich haltbar!

 

Richtig ist sicherlich, dass intensive Behandlungsmaßnahmen bei Abhängigkeitsstörungen nur dann Sinn machen, wenn es eine belastbare Entwicklungs- oder Änderungsbereitschaft des Klienten gibt. Die Forderung nach Krankheitseinsicht bindet diese Änderungsbereitschaft aber tendenziell an einen inneren Prozess, der nur begrenzt im äußeren Verhalten beobachtbar ist (ich kann ja einsichtig sein, aber die Krankheit ist halt stärker als meine aktuellen Fähigkeiten zur Verhaltensänderung). Wir beginnen in der Suchthilfe erst allmählich, beispielsweise eine Entwicklungsbereitschaft im Bereich der beruflichen Teilhabe als ausreichend tragfähige Basis für Suchtbehandlungsmaßnahmen zu sehen.

 

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