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Ich gehe gerne in meine Gruppe

Suchtselbsthilfe als ein Garant für erfolgreiche Interventionen

Referat von Rolf Hüllinghorst

Es ist schön, heute hier bei Ihnen in Stuttgart zu sein. Ich sehe viele Menschen, die erwartungsvoll nach vorne blicken – das freut mich, setzt mich aber auch etwas unter Druck. Wenn ich durch die Reihen schaue, sehe ich viele Bekannte. Menschen, die mir bei Tagungen begegnet sind, die ich in Seminaren getroffen habe, mit denen ich einige Schritte zusammen gegangen bin. Das ist schön.

Lob der Selbsthilfe

Bei der Vorbereitung auf ein solches Thema gehen die Gedanken immer wieder in die Runde. Gibt es denn noch Dinge, die neu sind? Welche die Menschen nicht schon lange kennen?

Doch dann tauchen Gesichter vor mir auf. Menschen, die ich in Selbsthilfegruppen getroffen habe. Menschen mit einer Geschichte, die ich auf der einen Seite nicht in allen Einzelheiten erleben möchte, die auf der anderen Seite aber einen so positiven Verlauf genommen hat, wie es nicht zu erwarten war. Menschen, die mir immer wieder gezeigt haben, dass es möglich ist, die Abhängigkeit zu überwinden. Dass es möglich ist, dies mit Hilfe einer Gruppe zu tun, und dass dies der Anfang eines langen Weges ist. Eines Weges der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Aber es ist nicht nur die eigene Entwicklung, sondern dieser Weg verändert Familienzusammenhänge, er schafft neue Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder und Angehörige.

Damit meine ich nicht nur die in der Sucht-Selbsthilfe getanen Schritte in Richtung Gruppenleitung, Verantwortungsübernahme auf den unterschiedlichen Ebenen in den Verbänden – viele Menschen z. B. im Kreuzbund hätten sonst nie den direkten Kontakt mit dem Bischof gefunden -, sondern auch und vor allen Dingen die menschliche Entwicklung. Neuer Start im Beruf, neuer Blick auf die Kinder, neue Aufstiegschancen für Kinder – das sind nur einige Aspekte im persönlichen Bereich, zu denen die Selbsthilfegruppe beitragen konnte.

Wenn ich die Gesichter vor mir habe, fällt mir aber auch noch etwas Anderes ein: Viele von ihnen sind schon lange nicht mehr unter uns. Sucht ist eine tödlich verlaufende Erkrankung. Horst, Karl-Heinz, Gerhard und andere hatten mit Hilfe der Selbsthilfegruppe den Ausstieg aus der Alkoholabhängigkeit geschafft, aber sie schafften es nicht, mit dem Rauchen aufzuhören. Sie verstarben im Alter zwischen 55 und 65 Jahren, obwohl wir sie noch so gut hätten gebrauchen können. Aber auch hier das Positive der Gruppe: Ihre Frauen blieben in der Gruppe. Sie fielen nicht in ein Loch, sondern sie haben hier ihre Freundinnen und Freunde, sie haben einen Freundeskreis gefunden, der sie weiter trägt und in dem auch sie eine neue Rolle gefunden haben.

Was wirkt?

Im Zusammenhang mit unserem Thema stellt man sich dann häufig die Frage: Was ist es, das in der Gruppe wirkt? Die Antwort ist einfach und kompliziert zugleich. Selbsthilfegruppen wirken, wenn sich Menschen mit dem gleichen Problem austauschen und gegenseitig hilfreich sind. Das ist ja schon etwas paradox: Die gleichen Probleme führen zur Überwindung? So einfach ist es ja nicht. Wir können festhalten, dass es die Menschen sein müssen, die sich in einer Gruppe treffen. Menschen, die ihre Erkrankung schon länger oder kürzer überwunden haben, die sich in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung und der Genesung befinden. Menschen, mit unterschiedlichen Erfahrungen, die sie gerne weitergeben.

Warum wirkt es?

Ich glaube, dass die Wirkung einer Gruppe in erster Linie darin liegt, dass man den Menschen ver-traut. Dass man spürt „Die wissen, wovon sie reden“, dass man erlebt „Ich bin ja nicht der oder die Einzige“ und dass man – wenn alles gut geht, sich angenommen fühlt.

Ich glaube aber auch, dass es an einigen wenigen Regeln liegt:

 Es müssen genügend Menschen da sein, die ihre Erkrankung schon länger überwunden haben. Es reicht nicht darüber zu berichten, wie schlimm alles war, sondern wichtiger sind die Berichte über die Bewältigung.

 Es werden keine Ratschläge geben, sondern es wird von sich erzählt. Die Entscheidung über das, wie ich es tun und anpacken möchte, bleibt bei mir.

 Ich spüre eine unsichtbare, schützende Hülle, die die bestehende Gruppe für einen neuen Be-sucher bildet. Unter diese Hülle kann ich mich immer wieder zurück ziehen.

Wann wirkt es?

Auch das „Wann“ ist immer noch eine große Unbekannte. Wir sind uns sehr häufig darin einig, dass die Menschen zu spät in die Gruppe kommen. Aber was ist in unserer trinkfreudigen Gesellschaft der „richtige Zeitpunkt“? Solange es noch Menschen gibt, die mit trinken – oder sogar mehr trinken – warum soll ich aufhören? Es funktioniert ja noch alles, auch wenn ich es mir schon lange schön rede.

Eine Gruppe kann nur dann wirken, wenn man sie kennt, wenn man sie besucht. Vielleicht auch schon im Vorfeld, wenn man den Menschen trifft, der einen mit in die Gruppe nimmt. Aber es geht nicht um Faltblätter oder Artikel in der Zeitung. Die Wirkung kann eine Gruppe erst dann entfalten, wenn die Menschen in der Gruppe miteinander agieren, wenn sie miteinander sprechen, sich zuhören und sich vertrauen.

Aktuelle Situation

Die aktuelle Situation in den Sucht-Selbsthilfegruppen und Sucht-Selbsthilfeverbänden ist als „zwie-spältig“ zu beschreiben. Auf der einen Seite gibt es Gruppen, in denen ist „was los“, es kommen neue Menschen, sie setzen sich auseinander und sie haben Pläne, wie es weitergehen soll.

Aber dann gibt es auch die andere Seite: Man trifft sich regelmäßig, aber es kommen kaum neue Menschen in den Kreis. Sie werden erwartet, aber wenn sie dann kommen, haben sie häufig den Eindruck, dass sie nicht willkommen sind. Die Gruppe ist sich selbst genug, sie kennt ihre Themen, sie kennt sich und die Gespräche wandern ab in den privaten Bereich.

Vor allen Dingen Sie, die Sie in der Verbandsleitung tätig sind, können für sich ja einmal eine Bilanz ziehen, welche Gruppen bei Ihnen überwiegen. Welche Gruppen für den Verband noch wichtig sind. Oder im betriebswirtschaftlichen Jargon gesprochen: Auf welche Gruppen kann ich noch setzen, in welche Gruppen kann ich noch investieren?

Doch vielleicht schauen wir noch einmal etwas näher hin:

Älter

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Mitglieder älter werden. Das hat keinen „demografischen“ Grund, wie immer mal wieder versucht wird zu behaupten. Das Eintrittsalter in die Behandlungsbe-dürftigkeit hat sich über die Jahre kaum verändert. Immer noch sind es die Männer um die 45 Jahre, die in großer Zahl Hilfe suchen, wie Sie dieser Grafik entnehmen können. Hier ist das Alter aufgetra-gen, in dem die Menschen in die Beratungsstellen kommen.

Abb. 1 und 2

Und in dieser Grafik haben wir die Behandlungsfälle im Allgemeinkrankenhaus im Jahre 2011. Auch hier sehen wir die Spitze in der Altersgruppe zwischen 40 und 55 Jahren.

Abb. 3

Viele unserer Gruppen wurden vor 20, 25 oder 30 Jahren gegründet. Sie waren aktiv, sie gewannen neue Freunde. Aber irgendwann versiegte der Zugang. Vielleicht war der Altersunterschied zu den neuen Hilfesuchenden schon zu groß, vielleicht war es aber auch die Lebenseinstellung, die sich ge-ändert hatte, und die neue Menschen spürten: Das war nicht ihre Welt.

Weniger

Es ist also kein Wunder, wenn dann die Mitglieder bzw. Gruppenbesucher weniger werden. Wenn die Kosten für Kränze höher sind als für das Grillgut. Eines unserer Probleme ist ja, dass es da anschei-nend eine Regel gibt, dass größere Gruppen größeren Zulauf haben, und kleine Gruppen klein bleiben. Und das „Weniger“ passiert schleichend. Sind es in den Gruppen eine oder zwei Personen, die man bei der nächsten Meldung an den Landes- oder Bundesverband nicht mehr berücksichtigen kann, so summiert sich das bei den Verbänden auf Rückgänge bis zu 5 % pro Jahr.

 

Weniger Aktivität

Wenn wir nun die Beschreibungen „älter“ und „weniger“ zusammen nehmen, so bedeutet das „weni-ger Aktivität“. Weniger Menschen, die da sind, und weniger Menschen, die Tische und Stühle tragen können, um das einfachste Beispiel zu nehmen. Älter werden ist lebensgefährlich – auch für eine Gruppe. Wenn man im Alter aktiv bleibt, soll das ja gut sein. Das gilt auch für Gruppen. Aber es gibt eben Grenzen.

Wie kam es dazu?

In einem Vortrag soll man positiv sein, nach vorne schauen und die Zuhörerinnen und Zuhörer ermu-tigen. Das will ich und das werde ich auch. Dennoch bitte ich Sie, dass wir jetzt noch einmal gemeinsam einen Blick zurück werfen. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Denn wenn wir die Ursachen nicht finden, können wir nicht die richtigen Rezepte finden.

Veränderung der Gesellschaft

Wenn Sie heute die Zeitungen aufschlagen, so werden Sie feststellen, dass es auch andere Vereine und Verbände sind, die über eine Überalterung klagen, die händeringend nach Nachwuchs suchen. Bei einigen von den Vereinen, die sich zu Wort melden, kommt mir das ganz normal vor und ich wundere mich, dass es sie immer noch gibt. Wenn ich bei einigen von ihnen mitmachen sollte, würde ich Pickel bekommen.

Die Parteien pflegen ihre jungen Mitglieder; die Gewerkschaften denken sich ähnliche Dinge aus wie frühe Partizipation, Beteiligung über das Internet usw. Und dennoch gibt es sie nicht mehr, diese glatten Karrieren von der Parteijugend zum Bundeskanzler. Ich denke, dass das nicht in erster Linie mit den jungen Menschen zu tun hat. Nicht damit, weil sie nicht für andere Menschen da sein wollen. Nein, sie können es auch nicht. Wenn man sich von einer prekären Arbeitssituation in die nächste rettet, dazu noch für eine Familie Verantwortung trägt – was bleibt da noch an Zeit übrig? Und auch das ist neu: Junge Menschen entscheiden sich heute deutlicher. Hier die Arbeit – dort die Freizeit.

Und wenn ich dann eine Position erreicht habe, die verantwortlich ist, die gut bezahlt wird: Dann habe ich mich schon fast als Sklave verkauft, muss ständig erreichbar sein, stets im Einsatz.

Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen freiwilligem gesellschaftlichen Engagement und der Mitarbeit in Selbsthilfegruppen. Selbsthilfegruppen müssten sich eigentlich um ihren „Nachwuchs“ keine Sorgen machen, denn er ist auch ein Ergebnis unserer Gesellschaft. Der große Psychiater und Sozialwissenschaftler Paul Watzlawick sagte voraus, dass dieses Jahrhundert das Jahrhundert der Sucht und der Depression sei. Wenn man dann Depression noch mit „Burn-Out“ übersetzt, dann haben wir alle erforderlichen Stichworte, die seine Vision zur Realität werden lässt. Tatsächlich gibt es immer mehr Menschen mit Problemen, denen ein Besuch einer Selbsthilfegruppe gut tun würde und anzuraten ist.

Veränderung der ambulanten und stationären Suchthilfe

Hier kommt nun in der internen Diskussion immer wieder hoch, dass sich in der professionellen Suchthilfe viel verändert habe, dass die „Profis“ die Menschen nicht loslassen würden. Und dann folgt in der Regel der Hinweis, dass an jedem Patienten verdient werde.

Fakt ist, dass sich die Suchtselbsthilfebewegung und die professionelle Suchthilfe zur gleichen Zeit entwickelt haben. Mehr Menschen in den Gruppen, mehr Sozialarbeiter in den Beratungsstellen. Später Verkürzung der Therapiezeiten, dafür neue ambulante Angebote, Finanzierung der Nachsorge und wenn alles nicht mehr hilft, ganztätig betreute Wohngruppen.

Dabei gab es im professionellen Bereich, insbesondere in den großen Städten, sicherlich manche Über-Entwicklung. Man wollte den Erfolg, und insbesondere Drogenabhängige waren sperrig. Also diskutierte man über Substitution, die Vergabe von Ersatzpräparaten, später über Freigabe von bestimmten Substanzen. Man konnte den Eindruck haben, dass ein Versorgungssystem für Drogenabhängige entstanden ist, das wirklich umfänglich und für jede Lebenssituation ausgerichtet ist.

Aber Fakt ist auch, dass sich die Ergebnisse nicht verändern. Gerade in der stationären Rehabilitation wird deutlich, dass alle – sicherlich richtigen – Veränderungen im Therapiebereich und im Setting nicht zu gravierenden Veränderungen der Erfolgsquoten geführt haben.

Und Fakt ist auch, dass auch hier eine Generation nicht so richtig erreicht wurde, weil die Therapeuten mit ihren Klienten älter wurden.

Und der letzte Fakt: Beratungsstellen verdienen nicht an ihrem Klientel. Gerade werden die Beträge für die Nachsorge gekürzt und wir können hoffen, dass das gute deutsche Hilfesystem in seiner Substanz erhalten bleibt.

Nein, die Schnittstellen müssen anders gepflegt werden.

Was nun?

Mit Selbsthilfegruppenanschluss geht es besser

In der Zeitschrift SUCHT (58 (4), 2012, 259 – 267) erschien ein Artikel, der sich mit „Merkmalen von Alkoholklienten der ambulanten Suchthilfe in Selbsthilfegruppen“ befasst. Die Autoren Walter Fuchs (vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien), Silke Kuhn, Marcus-Sebastian Martens und Uwe Vertheim (alle vom Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg ZIS) haben in einer Studie in Hamburg die ambulant durch die professionelle Suchthilfe betreuten Klienten auch daraufhin untersucht, ob und in welcher Interaktion der Besuch von Selbsthilfegruppen steht. Um es vorweg zu nehmen: In den Schlussfolgerungen für die Praxis wird empfohlen: (Abb. 4)

 Bei Klienten der ambulanten Suchthilfe, die zusätzlich Selbsthilfegruppen besuchen, können bezüglich des Trinkverhaltens sowie der psychischen und körperlichen Gesundheit günstigere Behandlungsverläufe festgestellt werden.

 Alkoholabhängige Klienten der professionellen Suchthilfe sollten ermutigt werden, wenn möglich über einen längeren Zeitraum eine (für sie passende) Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Selbsthilfeangebote sollten so ausgebaut werden, dass sie auch für bisher nicht erfasste Gruppen zugänglich werden. Es zeigt sich, dass professionelle Suchthilfe durch den Besuch von Selbsthilfegruppen sinnvoll ergänzt werden kann.

Im Bereich der Selbsthilfe gibt es nur wenig Forschung, und wenn, dann wird meistens beschrieben, was in den Gruppen getan wird und welche Wirkung die Gruppen auf die Gruppenbesucher haben. Der Goldstandard von Forschung, nämlich die Wirkung von was auch immer doppelt zu untersuchen, kann in vielen Fällen nicht durchgeführt werden. Eine zu untersuchende Gruppe in der Selbsthilfe findet man – aber eine sozial und gesundheitlich ähnlich strukturierte in der Allgemeinbevölkerung (zu Kontrollzwecken) zu finden, ist dann schon schwerer, zu schwer. Alle diese Bedenken werden von den Forschern vorgetragen – und dann wird entschieden, mit den Zahlen zu arbeiten, die man hat.

Und das sind nicht wenige: Basis ist die Hamburger BADO-Dokumentation, in der alle in der Stadt Hamburg ambulant betreuten Suchtkranken erfasst werden. Aktuell werden die Daten von zwei Jahren untersucht: 2006 und 2007. Diese wiederum werden klassifiziert nach der Teilnahme an Selbsthilfegruppen, und zwar: (Abb. 5)

1. Weder zuvor noch aktuell: 5.189 Personen

2. Bereits zuvor und aktuell: 260 Personen

3. Aktuell, aber nicht zuvor: 496 Personen

4. Zuvor, aber nicht aktuell: 122 Personen

 

Da überrascht zunächst einmal der geringe Anteil von Selbsthilfegruppenbesuchern an der Zahl der ambulant betreuten Menschen. Für mich stellt sich die zentrale Frage, ob die professionellen Betreuer wirklich einen Besuch von Selbsthilfegruppen empfehlen und wenn ja, ob sie hinter ihrer eigenen Empfehlung stehen. Gut, dass das in den Schlussfolgerungen noch einmal explizit aufgegriffen wird. Was wir brauchen, ist nicht nur eine selbsthilfefreundliche Gesellschaft, sondern wir brauchen auch selbsthilfefreundliche Therapeuten und Behandler.

Denn die untersuchten Merkmale deuten alle darauf hin, dass sowohl die Menschen, die aktuell eine Gruppe besuchen oder aber vorher eine Gruppe besucht haben, die besseren Werte haben. Wissenschaftlich stellt sich dann sofort die Frage, ob dies an den Menschen liegt, die sich für einen Besuch von Selbsthilfegruppen entscheiden haben, oder ob es sich um eine Wirkung des Gruppenbesuchs und der Gruppe handelt. Für mich stellt sich diese Frage nicht, sondern ich freue mich über die Ergebnisse. Dafür nur ein Beispiel.

 

Die Menschen in den zuvor beschriebenen Gruppen tranken täglich Alkohol (in %) (Abb. 6)

zu Beginn der Behandlung aktuell

1. Weder zuvor noch aktuell: 30,4 17,0

2. Bereits zuvor und aktuell: 11,1 1,7

3. Aktuell, aber nicht zuvor: 12,0 3,2

4. Zuvor, aber nicht aktuell: 13,6 5,0

Alle Werte haben sich verbessert, aber mit aktuellem Besuch von Selbsthilfegruppen sind sie einfach am besten. Ich mag diese Untersuchung, zeigt sie doch auf, was durch die Mitgliedschaft und die Mitarbeit in Selbsthilfegruppen möglich ist.

In zwei Richtungen schauen

Nun haben wir die Situation der Selbsthilfe schon aus vielen Richtungen angeschaut. Wenn wir auf-merksam sind, können wir viele Dinge aufnehmen: Aus der Gesellschaft, der Politik und der Wissenschaft. Aber die Konsequenzen müssen wir selber ziehen. Wir müssen selber wichten, was uns wichtig ist, was erfolgversprechend sein kann.

Ich werde das jetzt versuchen. Aber es ist wie in der Gruppe: Ich kann meine Ideen und Wünsche äußern – Sie müssen entscheiden, was für Sie wichtig sein könnte, was Sie evtl. übernehmen oder ausprobieren möchten.

In meinen Augen sind es zwei Bereiche, die wir uns gemeinsam anschauen können:

1. Wir müssen mit den Menschen arbeiten, die da sind. Auch wenn wir es manchmal wollten, wir können uns keine Gruppenbesucher, dazu noch die richtigen, schnitzen.

2. Wie erreichen wir neue Menschen?

 

Mit den Menschen arbeiten, die da sind

Die Menschen, die in unsere Gruppen kommen, sind zufrieden. Würden Sie irgendwohin gehen, wo es Ihnen nicht gefällt? Aber wenn ich dann dort bin und es mir gefällt, warum sollte ich etwas verändern wollen? Doch wenn wir uns in der Gruppe nicht verändern, bleiben wir stehen. Wenn wir uns dann immer noch nicht verändern, fallen wir zurück. Wir beklagen die Situation, aber was tun?

Bereitschaft zur Veränderung wecken

Wir müssen die Bereitschaft, die Gruppe zu verändern, wecken. Die Gruppe muss wieder in Bewegung gebracht werden. Nicht: Das war doch alles schon da; das haben wir alles schon versucht, sondern: Lasst es uns noch einmal versuchen. Wenn wir Menschen erreichen, dann können wir helfen. (Und nur als Nebenbemerkung: Die Mittel gemäß § 20 SGB V sind sinnvoll eingesetzt, wenn ein Gruppenseminar durchgeführt wird. Nicht wegen des Hotels und der Verpflegung, sondern wegen der Planung: Was können wir, die wir hier beisammen sind, in diesem Leben noch erreichen? Was können wir noch zusammen tun? Denn das wissen wir doch aus Erfahrung: Wenn wir uns zusammensetzen, finden wir gute Lösungen.

Auf die (neuen) Erfahrungen der Besucher reagieren

Jeder von uns hat ein Bild davon, wie er sich sieht. Wie er seine Familie sieht, seinen Freundeskreis. Und jedermann hat eine Vorstellung davon, was „normal“ ist. Leider hat diese Normalität ganz viele Facetten, und ist bestenfalls in sehr ausgewählten Gruppen so etwas wie ein „Leitbild“.

Die Menschen, die heute zu uns kommen, sind nicht immer „wie wir“. (Das können sie ja auch nicht sein, denn wir müssen bedenken, welche Wege wir in der Gruppe, in der Gemeinschaft zurück gelegt haben.) Und dennoch kann man es manchmal beim besten Willen nicht unterdrücken, einen neuen Gast zu bewerten. Aber das ist falsch! Die Gruppenmitglieder müssen sich auf jeden Menschen, der über die Schwelle tritt, neu einlassen. Er bringt Erfahrungen mit, die andere nie machen konnten. Sie kennen Suchtmittel, von denen wir noch nicht gehört haben, sie hatten Beschaffungswege, von denen wir lieber nichts hören wollen.

Und dennoch: Wir müssen zuhören, lernen, um dann mit unseren Erfahrungen evtl. hilfreich sein zu können.

Offenheit für gemeinsame neue Wege (MI)

Beim „kontrollierten Trinken“ wird es am deutlichsten. Da kommt jemand neu in die Gruppe und er-kundigt sich danach, wie es denn mit dem „kontrollierten Trinken“ gehe. Sie kennen das: Da bricht ein Sturm los und alle können mitreden. Mitreden in dem Sinne, dass das der ganz falsche Ansatz sei; man kenne keinen, der es geschafft habe; entweder – oder.

Dieses „Entweder – oder“ macht uns heute zu schaffen. Denn das können wir von den professionellen Helfern lernen: In der Motivationsphase lohnt es sich, auf den Klienten, auf den Freund einzugehen. Niemand ist davon überzeugt, dass es ab sofort ohne das Suchtmittel geht. Insgeheim hoffen er oder sie darauf, weiter Alkohol trinken zu können, aber eben nicht ständig „abzustürzen“.

Wenn man Geduld und Vertrauen hat, kann man sich auf diese Diskussion einlassen, denn – bei Abhängigen geht es nur ganz ohne das Suchtmittel. Aber es geht nicht darum, dass wir das wissen. Es geht darum, dass unser Gegenüber es merkt und dann auch weiß: Ich kann nicht wie andere Menschen trinken, ich muss ganz aufhören.

In der Gruppe motivieren wir nicht beim ersten Mal, mit dem Trinken Schluss zu machen. Nein, wir motivieren, bis zum nächsten Gruppenabend nüchtern zu bleiben. Wenn das nicht geht, anzurufen oder uns zu treffen.

Es sind die kleinen Schritte, die wir gemeinsam tun müssen, um den langen Weg gemeinsam gehen zu können.

Kenntnis der Veränderungen im Hilfesystem

Vielleicht glauben Sie es mir: Bei manchen Gruppenleitern kann man an der Art der Moderation der Gruppe noch erkennen, bei welchem Gruppentherapeut sie stationär behandelt wurden. Sie machen es so, wie sie es erlebt haben. Aber ich bin auch ganz sicher, dass sich die Gewichte in der Klinik verlagert haben, dass neue Methoden und auch neue Werte Einzug gehalten haben.

In den stationären Fachkliniken treffen wir auf Menschen, die wirklich schwer krank sind. Denn die anderen werden ambulant behandelt. Die meisten aus beiden Gruppen bekommen ambulante Nachsorge, bleiben also bis zu 18 Monaten in der Obhut von Sozialarbeitern oder Therapeutinnen.

In der medizinischen Rehabilitation ist das Prinzip der gemeinsamen Therapiegruppen schon lange aufgehoben worden zugunsten von Indikationsgruppen, um intensiver auf die Menschen, ihre indivi-duellen Stärken und Schwächen, eingehen zu können. Vor allen Dingen steht aber der Aspekt der Vermittlung in Arbeit ganz obenan, denn die Rentenversicherung bezahlt die Maßnahmen, um „die Arbeitsfähigkeit zu verbessern oder wiederherzustellen“.

Auch hier: Es geht nicht darum, was wir erlebt und für gut befunden haben, sondern es geht um die heutige Situation, die wir zu akzeptieren haben. Die Menschen kommen vor diesem Hintergrund in die Gruppe, und da nützt es niemanden, wenn erst einmal erklärt wird, wie früher alles war.

Alte Menschen in der Gruppe

Und da sind wir auch schon bei einem anderen schwierigen Thema. Bis wann sollte man aktiv in der Gruppe mitwirken? Bis wann sollte man in die Klinik gehen, um von sich zu erzählen, sein eigenes Beispiel zu präsentieren? Gut ist es doch immer, wenn man noch in etwa zu den Menschen passt, die heute unsere Hilfe suchen. Oder deutlicher: Irgendwann ist Schluss und man wird nicht mehr als hilfreich erlebt, weil man zu alt geworden ist.

Ich denke, dass es Gruppen gibt, die schon lange keinen neuen Gast begrüßen konnten. Diese Tatsache sollte akzeptiert werden, denn nun kann man sich in der Gruppe anderen Dingen zuwenden. Man ist in einer Gruppe mit Freunden, man trifft sich regelmäßig, man kennt sich und man hilft sich. Wie viele Menschen können das schon von sich sagen? Wie viele Menschen dürfen das erleben?

Wenn man dann am Gruppenabend noch seine guten Gedanken zu den Menschen schickt, die aktuell noch abhängig sind, die in eine Gruppe gehen oder einen Rückfall hatten – das ist die Aufgabe des Alters.

Wenn man aber denkt: Die schaffen das doch alles nicht, die machen es nicht wie wir – das ist ungefähr so, als wenn man anderen Menschen in der Wirklichkeit ein Bein stellt.

Eigene (demütige) Positionierung

In den Gruppen können Sie stolz sein auf das Erreichte. Für die Gruppe, für den Verband und für sich selbst. Diesen Stolz können Sie auch zeigen. Vielleicht gab es für die viele Arbeit in den letzten Jahren das Bundesverdienstkreuz oder andere Medaillen. Ein kleiner Ausgleich für viele Stunden der Zuwendung an andere Menschen.

Aber in der Selbsthilfegruppe – da zählt das alles nicht. Da geht es um mich und meine Schwächen, meine Nöte, die Schwierigkeiten meines Nachbarn. Wenn wir die Gruppe ernst nehmen merken wir erst, wie demütig wir in jedem Gespräch sein sollten, wie dankbar. Persönliche Demut und Dankbarkeit – das merkt unser Gegenüber und er oder sie merken auf.

Qualität

Lassen Sie mich, bevor ich zu den Menschen komme, die wir neu erreichen wollen, ein paar Sätze zur Qualität sagen.

In den Gruppen

Bevor Menschen mit Fragebögen in die Gruppen kommen und die Arbeit überprüfen und bewerten, sollten die Gruppen immer wieder für sich drei Fragen beantworten:

1. Kommen neue Menschen in unsere Gruppen?

2. Kommen die Menschen wieder?

3. Gibt es einen guten, geplanten Abschied in unserer Gruppe?

Darum geht es doch, dass Menschen zu uns kommen, dass sie wiederkommen, und dass sie erhobenen Hauptes sagen können: „Vielen Dank, Ihr habt mir geholfen. Aber jetzt möchte ich es ohne Gruppe versuchen.“

Natürlich kann man jetzt noch eine Reihe von Kriterien aufstellen, die gute Gruppenarbeit beschreibbar machen. Aber wir befinden uns in der Selbsthilfe. Wir müssen mit den Menschen arbeiten, die da sind. Sie tun das freiwillig, wir stellen sie weder ein noch bezahlen wir sie.

Und dann gibt es natürlich die Seminare in den Verbänden, in denen all die Punkte angesprochen und erarbeitet werden können, die in den Gruppen nicht so gut laufen.

In den Verbänden

Die Kriterien für Qualität in den Verbänden sind da schon schwieriger zu beschreiben. Am einfachsten vielleicht so: Gibt es ein Stellenprofil für den hauptamtlichen Mitarbeiter / die Mitarbeiterin? Wird dieses Stellenprofil regelmäßig überprüft bzw. darüber gesprochen, ob die Dinge, die von einem Mitarbeiter erwünscht werden, auch getan werden?

Gibt es klare Zuständigkeiten und sind die Gruppen mit ihrem Verband zufrieden? Denn die Gruppen können zur Not auch ohne Verband (in Berlin sind das schon fast 50 % aller Selbsthilfegruppen im Suchtbereich), aber ein Verband ist nichts ohne Gruppen.

In der professionellen Hilfe

In den Fachkliniken und den Beratungsstellen ist ja alles geregelt. Fast alle sind zertifiziert und arbeiten qualitätsgesichert. Wünschen würde ich mir – und dafür lohnt es auch zu kämpfen, dass der Umgang mit Selbsthilfe geregelt wird. Es muss verpflichtend für die Qualität einer Beratungsstelle sein, dass bei jedem Klienten dafür gesorgt wird, dass er eine Chance hat, sich einer Gruppe anzuschließen.

Wie erreichen wir neue Menschen?

Eigentlich kann ich es schon nicht mehr hören. „Wie erreichen wir neue Menschen?“ oder – das ist die verschärfte Form: „Wie erreichen wir junge Menschen?“ Die erste Antwort ist ganz einfach, und leitet sich aus dem vorher gesagten ab: Indem wir uns in Bewegung bringen. Sitzen und warten und hoffen – das kann doch nichts bringen!

Uns auf andere verlassen – auch das kann nichts bringen. Da wird dann stundenlang über die Formulierung einer Pressemeldung gestritten – die dann ganz verändert in der Zeitung erscheint. Ohne das Wichtigste überhaupt: Wann kann man die Gruppe wo erreichen.

Klarheit der Zielgruppe, die angesprochen werden soll

Stellt sich die erste Frage: Wen wollen wir erreichen? Kennen wir unsere Zielgruppe genau? Erst wenn wir darauf eine Antwort haben, wissen wir den Weg. Sollten wir – welche Überraschung – zu der Auffassung kommen, dass es die Menschen mit Alkoholproblemen und deren Angehörige sein, die wir erreichen wollen, so wissen wir, wo sie sind.

Wo sind die Menschen?

In der gemeinsamen Statistik von fünf Verbänden der Suchtselbsthilfe finden wir erste Hinweise. Die Menschen in den Selbsthilfegruppen kommen:

 aus den Beratungsstellen;

 aus den Fachkliniken;

 aus den Krankenhäusern und

 ohne vorherige Berührung mit dem Hilfesystem.

Kriterien guter Kooperation

Das wissen wir – warum holen wir sie nicht genau dort ab? Ich erinnere mich noch gut an die 70iger und 80iger Jahre. Ehrenamtliche Mitglieder der Verbände waren in großen Betrieben für das Thema „Alkohol im Betrieb“ zuständig. Sie warfen, etwas übertrieben gesagt, das Lasso aus, und wer als alkoholabhängig auffiel, wurde in die Gruppen ihres Verbandes geschickt. Später, als sich das Arbeitsfeld „Betriebliche Gesundheit“ durchsetzte, die Hilfe hauptberuflich geschah, versickerte diese scheinbar nie versiegende Quelle.

Es ist anscheinend immer das Gleiche: Kamen früher die meisten Menschen aus der professionellen Hilfe auch in die Selbsthilfe, so wird das heute anscheinend immer weniger. Da hilft nur eins: Eine gute, gelingende Kooperation. Nicht abwarten, sondern hingehen und den Sozialarbeiter treffen.

Auch dort gibt es Gespräche, die wir schon kennen. „Ich sage jedem, er soll in eine Gruppe gehen.“ „Ich kann sie doch nicht in Eure Gruppen tragen.“ „Noch letzte Woche kam jemand zurück aus Eurer Gruppe, der sagte, dass er dort nicht mehr hingehen wird. Er fühlte sich nicht angenommen.“ Das kann alles stimmen. Aber man muss darüber ins Gespräch kommen. Und im Gespräch bleiben. Und vorher informiert werden. Auch das ist doch nicht neu: Erst wenn wir uns kennen, können wir miteinander reden.

Zu den Menschen gehen

Bei den Menschen, die sich bereits in Betreuung oder Behandlung befinden, ist es die notwendige Kooperation, um den Übergang in die Selbsthilfe zu gestalten. Was machen wir aber mit denen, die noch nicht mit dem Hilfesystem in Berührung gekommen sind, die aber dringend etwas tun müssten?

Diese Menschen haben ja ein doppeltes Problem. Zunächst einmal konsumieren sie zu viel. Das macht ihnen Probleme. Im beruflichen Bereich, im familiären Bereich, in der Gesundheit. Aber sie meinen, dass sie es schon in den Griff bekommen würden. Sie wollen noch keine Hilfe, obwohl sie es bitter nötig hätten.

Die Anonymen Alkoholiker sprechen von dem „persönlichen Tiefpunkt“, und jeder von Ihnen kann einen solchen Tiefpunkt schildern.

Doch heute wissen wir auch mehr über Motivation. Wir wissen, dass jedes Ansprechen wirkt. Auch wenn ärgerlich fortgelaufen wird – es wirkt nach. Was bleibt uns also anderes übrig, als immer wieder zu den Menschen zu gehen. Sie anzusprechen und unsere Hilfe anzubieten.

Ich erinnere mich noch genau, wie mein Vater Hausbesuche machte. Der „Fürsorger“ hatte eine Liste von Familien, die besucht werden sollten. Mein Vater und seine Freunde besuchten sie am freien Samstag, damals eine neue sozialpolitische Errungenschaft. Und einige davon kamen dann auch in die Gruppe.

Dann kamen immer mehr Menschen zu uns, und wir waren die besseren Sozialarbeiter. Wir sind jede Woche hier, und wer ein Problem hat, der soll doch kommen. Ich weiß noch, dass ich das auch gesagt habe. Aber wir dürfen ja auch immer noch dazu lernen. Und das bedeutet für mich heute, dass wir wieder hinaus gehen müssen. Sie wissen doch, dass zum Beispiel Menschen mit übermäßigem Alkoholkonsum nur selten ein Beschaffungsproblem haben. Aber sie haben ein Entsorgungsproblem. Abends am Glascontainer – da sollten Sie mal hingehen.

Oder diese Selbsthilfetage und Gesundheitskonferenzen. Wie gerne stellen wir dort einen Stand auf. Wir verteilen unsere Prospekte und hoffen darauf, dass jemand, der einen Prospekt mitgenommen hat, diesen an die richtige Stelle weitergibt. Ich bin davon überzeugt: Unsere Zielgruppe erreichen wir nicht hier, sondern beim Discounter. Oder in der Kneipe.

Wenn wir unsere Zielgruppe also definiert haben, wissen wir, wo sie ist. Dorthin müssen wir gehen. Das nimmt uns niemand ab. Und das macht auch niemand anders. Wir sollten es zumindest ausprobieren. Es ist übrigens nicht verboten, bei der Gelegenheit auch Mitglieder oder Fördermitglieder zu werben, Spenden zu akquirieren oder Lose zu verkaufen. Und nicht hinter dem Tisch zu stehen, sondern davor.

 

Suchtselbsthilfe für junge Erwachsene

Noch immer ist mein Thema „Wie erreichen wir neue Menschen?“ Und, das ist das Schöne, es gibt immer wieder gute Beispiele. Gruppen junger Menschen, die sich regelmäßig treffen. Gruppen, die dynamisch sind – und dann wieder gemeinsam älter werden.

Hier gibt es keine Regeln, sondern es gibt nur Menschen, die junge Menschen begeistern können. Die sind offen, tolerant, neugierig, großzügig, es sind in der Regel Teamplayer. Die können wir uns nicht backen. Aber wir können immer wieder ein Auge darauf haben, ob es nicht auch bei uns solche Menschen gibt. Die sich vielleicht noch nichts zutrauen. Oder denen wir nichts zutrauen. Die wir fordern und fördern sollten.

Und in den – wenigen – Gruppen junger Menschen gelten andere Regeln, die wir akzeptieren müssen. Das ist so ein Ding mit der Regelmäßigkeit. Aber wenn ich mich für Freundin oder Gruppe entscheiden sollte? Oder mit der Ordnung. Gerade bekam ich eine SMS. Ich muss weg. Die Flasche kann ich doch auch nächste Woche noch wegräumen.

Sie merken, es geht um neue Formen des Zusammenlebens.

Auch junge Menschen haben bereits Suchtprobleme. Und Selbsthilfegruppen helfen auch hier. Aber die Regeln sind andere. Nur wenn wir uns darauf einlassen, können wir hilfreich sein.

Suchtmittel und Suchtverhalten

Ein letztes Wort in dieser Rubrik. Immer wieder werden neue Säue durchs Dorf getrieben. Mal ist es Crack, mal ist es Crystal Meth. Beides unumstritten gefährlich, aber beides ist nur sehr begrenzt auf dem deutschen Markt angekommen. Ich glaube nicht, dass ein Konsument dieser Drogen in Ihren Gruppen gelandet ist.

Dennoch sind die Medikamentenabhängigen in den Gruppen unterrepräsentiert, es kommen weniger Glücksspieler in Selbsthilfegruppen als sie sollten, und der Konsum von unterschiedlichsten Suchtmitteln soll schon fast die Regel sein.

Da gibt es viel Unsicherheit in den Gruppen. Was sollen wir tun? Welche Ausbildung benötigen wir? Ich traue mir das nicht zu. Und immer wieder ist es das Gleiche: Wenn ein Menschen mit Problemen, die auch uns bisher fremd sind, zu uns kommt, so wird er freundlich willkommen geheißen. Man kümmert sich um ihn, und auf einmal steht nicht das konsumierte Mittel im Vordergrund, sonder der Mensch.

Wenn es dann noch Netzwerke innerhalb des Verbandes oder der Kommune gibt, an die man im Ein-zelfall verweisen kann, dann ist das eine gute Sache. Wir können nicht alles, und wir sollten bei unse-ren Kernkompetenzen bleiben.

Immer…

stellen sich die gleichen Fragen:

 Was sind die Bedürfnisse der Menschen, die wir erreichen wollen, die (unsere) Hilfe brauchen?

 Was sind die Bedürfnisse der Gruppen (nicht der Verbände)?

 

Diese Fragen müssen wir beantworten. Wenn wir die für uns richtigen Antworten gefunden haben, können wir daran gehen, die dann notwendigen und für uns richtigen Lösungen zu versuchen.

Es gibt – das haben Sie bis hierher sicherlich deutlich vernommen, keine Patentrezepte. Aber Rezepte. Und Fehler, die schon zu häufig gemacht worden sind. Und viele Gruppen haben nicht mehr so viel Zeit.

Ich gehe gerne in meine Gruppe

So ist mein Vortrag überschrieben. Eine Freundin hat das letzte Woche so beschrieben: Ich habe den Eindruck, dass jeden Mittwoch ein Teufel und ein Engel in meinem Kopf miteinander um mich kämp-fen. Der Teufel sagt: Bleib zu Hause, hier ist es doch auch schön. Und der Engel sagt: Du wirst erwartet, die anderen Menschen brauchen Dich, sie rechnen mit Dir. Und, so schloss sie ihre Erzählung: Meistens gewinnt der Engel.

Das Wunder in der Gruppe erleben

Nach wie vor ist es die für mich wichtigste Erfahrung wenn Menschen sagen, dass sie in einer Selbsthilfegruppe ein Wunder erlebt haben. Es ist gar nicht so leicht, sich von ihnen das Wunder beschreiben zu lassen. Das ist aber auch nicht so wichtig, wichtig ist es, darauf zu vertrauen, dass es das gibt.

Jemand kommt in die Gruppe, ist skeptisch, „was soll das bringen?“ und geht nach Hause. Voller Vertrauen, dass er das, was andere Menschen in der Gruppe geschafft haben, auch schaffen wird. Und das muss ja nichts Großes sein. Zu erleben, den Mund aufgemacht zu haben. Sich in einer Gruppe zu äußern. Neue Eindrücke zulassen, Hoffnung zu gewinnen. Viele von Ihnen kennen das.

Und darum arbeiten wir immer wieder daran. Daran, dass Menschen das Wunder in der Gruppe erleben können, dass es ihnen Wege für ihr zukünftiges Leben weist.

Veränderungen zulassen

Hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, schließt sich der Kreis. Menschen verändern sich, und wir müssen diese Veränderungen zulassen. Wir müssen auch uns selbst immer wieder verändern, wir müssen in Bewegung bleiben.

Unsere Offenheit für Menschen, unsere Offenheit für Veränderungen lässt es uns erleben: Menschen in Selbsthilfegruppen, das sind mehr als trockene Alkoholiker, cleane Drogenabhängige oder Eltern von Suchtkranken. Menschen in Selbsthilfegruppen Suchtkranker und ihrer Angehörigen sind Men-schen auf dem Weg. Sie brauchen kein Suchtmittel mehr, um ihr Leben zu leben, ihr Leben in Freiheit zu leben. Diese Erfahrung geben sie gerne weiter.

Der Weg in die Freiheit

Gerade im Zusammenhang mit Alkohol höre ich sehr häufig, dass in Zukunft auf Alkohol „verzichtet“ werden muss. Meistens mit bedauerndem Unterton. Und viele therapeutische Bemühungen verstehe ich auch so, dass sich Therapeuten kaum vorstellen können, dass ein Leben ohne Alkohol möglich und lebenswert ist.

Wenn wir uns einmal Gegensatzpaare anschauen: Natürlich steht der Abhängigkeit die Unabhängigkeit gegenüber. Man könnte aber auch sagen, dass der Abhängigkeit die Freiheit gegenüber steht. Viele von Ihnen haben Ihre Freiheit zurück gewonnen, sind den Weg aus der Unabhängigkeit gegangen. Kann man da von Verzicht sprechen, wenn dieser Verzicht die Voraussetzung für persönliche Freiheit ist? Es ist ein Gewinn, ein Gewinn an Leben, ein Gewinn an Lebensqualität.

Schluss

Wenn ich gefragt wurde, was ich beruflich mache und dann mit meiner Funktion antwortete, so hörte ich ganz häufig: Da haben Sie ja einen schweren Job. Mit suchtkranken Menschen umzugehen! Und ich antworte, dass es genau umgekehrt ist: Die Behandlungserfolge sind – wenn denn eine Behandlung begonnen wird, wenn Hilfe gesucht wird – so gut wie bei keiner anderen chronischen Erkrankung. Und diese Erfolgsquoten von mehr als 60 % finden wir in Selbsthilfegruppen ebenso wie in Beratungsstellen und in Fachkliniken.

Interessant dabei ist auch, dass bei allen Forschungen festgestellt wurde, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Therapiemethoden gibt – eben nur den mit der Motivation zur Abstinenz und der menschlichen Begegnung zu erklärenden Erfolg. Der verlängert wird, wenn es eine funktionierende Nachsorge gibt, und die beste Nachsorge ist der Besuch einer Selbsthilfegruppe.

Ich wünsche Ihnen allen ein weiteres Jahr bis zum 2. Suchtselbsthilfetag mit den gleichen Erfolgen wie bisher. Immer wieder neu zu beginnen. Hermann Hesse beginnt sein Gedicht „Stufen“ „Denn je-dem Anfang wohnt ein Zauber inne“ und beendet es mit dem Satz: „wohl an denn Herz, nimm Ab-schied und gesunde.“ In dem Raum dazwischen leben und sterben wir, freuen uns unbändig, halten Schmerzen aus, bauen auf, verzweifeln und sehnen uns nach immer dem Gleichen. Nach Sinn, Freiheit und Frieden. In unserem persönlichen Umfeld und in unserer Gruppe, in unserer Gemeinschaft und bei unseren Weggefährten erleben wir, dass sich diese Sehnsüchte bewahrheiten.

Ich wünsche es Ihnen allen von ganzem Herzen.

 

Anschrift des Verfassers:

Rolf Hüllinghorst

Praxis für Kommunikation und PolitikBeratung

Loheide 29 b

33609 Bielefeld

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