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Handbuch

Frühintervention in der medizinischen Primär- und Akutversorgung und in sozialen Institutionen / Justiz

Die ambulante Suchthilfe und die Suchtselbsthilfe haben vielfältige Erfahrungen damit, dass Menschen mit einer Suchtproblematik in akuten Krisenphasen vergleichsweise wirkungsvoll zu Veränderungen in ihrem Problemverhalten zu bewegen sind. Die Suchthilfe hat deshalb seit langem eine enge Zusammenarbeit mit allen Fachdiensten und Institutionen gesucht, bei denen Menschen mit Suchtproblemen in krisenhaften Entwicklungsphasen „anlanden“ (z.B. Führerscheinstelle, erste ordnungs- und strafrechtliche Auffälligkeiten, betriebliche Sozialdienste oder aufsuchende Suchtberatung im Strafvollzug). Bei anderen wünschenswerten Vernetzungen (Jugendamt, Jugendhilfe) erweisen sich häufig konzeptionelle Differenzen als Kooperationsbarrieren.

 

Während sich in vielen Orten gute Kooperationen mit der medizinischen Akutversorgung (Allgemeinkrankenhäuser) entwickelt haben, auch wenn solche Suchtberatung im Krankenhaus meist nicht strukturell in die Krankenhausarbeit eingebunden und fast nirgends eigenständig finanziert wird, erweisen sich bislang Kooperationen mit der medizinischen Primärversorgung (niedergelassene Ärzte) außer im Bereich der Substitutionsbehandlung als sehr mühsam. Dabei haben zahlreiche Forschungen auch in Deutschland gezeigt, dass Frühinterventionen in der Arztpraxis und in Krankenhäusern gute Effekte haben. Wirksam ist dabei offenbar die Intervention direkt durch den Arzt und die in eine „Normalbehandlung“ eingebundene Intervention.

Zu unterscheiden sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Perspektiven ärztlicher Frühinterventionen:

  • Die Erreichbarkeit akut suchtgefährdeter oder suchtkranker Patienten für eine suchtspezifische Behandlung
  • Die Erreichbarkeit von Patienten mit suchtrelevantem Risikoverhalten mit dem Ziel einer Risikoreduzierung. Bei diesen Frühinterventionen ist nach aller Erfahrung nicht mit einem nennenswerten Zulauf in die Suchtberatung zu rechnen, auch wenn die erzielten Effekte eindeutig die gesamtgesellschaftliche Suchtbelastung verringern.

 

Für die Erreichbarkeit von Patienten mit suchtrelevantem Risikoverhalten bieten sich nach bisheriger Erfahrung zwei Varianten an:

  • Das Angebot von Maßnahmen, die die ambulante ärztliche Behandlung weiterführend ergänzen nach dem Beispiel von Krankengymnastik, Logopädie u. ä.. Beispiele dafür sind die Projekte ambulanter Alkoholentgiftung in den PSBs Bietigheim und EVA Stuttgart. Solange eine solche fachliche Kooperation mit der PSB ohne leistungsrechtliche Barrieren genutzt werden kann, sind Ärzte nach der Erfahrung dieser Projekte gern und aktiv dazu bereit.
  • Unterstützung von Arztpraxen bei der Implementierung von Risikofrüherkennung in die regelmäßigen Gesundheitschecks; dafür gibt es bereits erfolgreiche Modellprojekte, nur die breitere Nutzung in der Fläche fehlt noch (vgl. Projekt „Früh-A“ in Brandenburg).

 

Entscheidend für die Akzeptanz solcher Früherkennungsprogramme ist, dass sie für die Arztpraxis mit keinem wesentlichen Mehraufwand verbunden sind, dass es um die Erkennung gesundheitlicher Risikofaktoren geht und nicht um eine Suchterkennung, und dass den Patienten in der Praxis alltagstaugliche Handlungskonzepte vermittelt werden, die eine Risikoreduzierung ermöglichen. Dabei sollte Wert darauf gelegt werden, dass Risikoreduktionsprogramme sich eben nicht nur auf eine Verhaltensvermeidung beschränken, sondern immer konkrete Verhaltensanregungen beinhalten. Wichtig scheint zu sein, dass es für erreichte Verhaltensänderungen eine erlebbar Wertschätzung gibt.

Nachdem allerdings die Grundstruktur unseres Gesundheitswesens alle Formen sprechender Medizin nahezu überhaupt nicht honoriert, wird die entscheidende Frage sein, ob es über größere Modellprojekte gelingt, Kooperationskulturen zu entwickeln, die mit dem Alltag einer fachlich breiten Allgemeinarztpraxis kompatibel sind.

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