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Forum 3: Qualitätsmerkmale der Selbsthilfe

Qualitätsmerkmale. Was löst dieser Begriff aus? Vielleicht erinnern Sie sich an Arbeitsabläufe in Industrie und Wirtschaft, die gespickt sind mit Begriffen wie DIN-ISO-Normen, Audit, Zertifizierung, Qualitätsmanagement etc. Dabei wird „Qualität“ in unserer Gesellschaft verknüpft mit Leistung und Konkurrenz. Und sie garantiert Position, Status und Profit.

 

Doch nicht nur in Industrie und Wirtschaft sind diese Begriffe Alltagssprache geworden, sondern inzwischen auch in der hauptamtlichen Suchthilfe, denn auch da geht‘s um DIN-ISO-Normen, Audits und Zertifizierung. Auch da geht’s um Qualitätsstandards, die erfüllt sein müssen, damit die Akzeptanz der Politik gegeben ist und die Gelder der Kostenträger fließen. Auch da geht’s um Wirtschaftlichkeit und den neuesten wissenschaftlichen Standard. Auf da läuft Konkurrenz und der Kampf um Marktanteile, denn jeder will etwas vom Kuchen des Suchthilfebudgets abbekommen.

Konkurrenz, das bedeutet: Wer kann sich behaupten, wer kann sich durchsetzen?! So läuft ein subtiles Ausleseverfahren, das allerdings wenig zu tun hat mit der Zielgruppe – den von Sucht betroffenen Menschen mit ihren Familien.

 

Wenn WIR als Suchtselbsthilfe über Qualitätsmerkmale nachdenken, müssen wir zunächst einen geeigneten Maßstab finden, an dem sich die Qualität unserer Arbeit messen lässt. Dazu gilt es die Ziele ehrenamtlichen Engagements zu klären. Und dann, wie wir diese Ziele erreichen können.

 

Was sind unsere Ziele?

Das OBERSTE Ziel ist, das eigene Leben zu stabilisieren, die Abhängigkeitserkrankung zu bewältigen, im Alltag wieder zurechtzukommen. Und DANACH wollen wir Menschen ansprechen, die als Abhängige oder Familienangehörige von Suchtkrankheit betroffen sind. Unsere Gruppen bieten eine Fülle von Experimentierfeldern, die persönliche und neue Erfahrungen ermöglichen, auch für Partnerbeziehungen und den Umgang mit Kindern.

Als Selbsthilfe wollen wir soziale Netzwerke bilden, oder einfacher ausgedrückt einfach „Freundschaften knüpfen“. Wir wollen Wege zu Abstinenz und Zufriedenheit aufzeigen, wollen Lebensfreude und Lebensqualität vermitteln. Und natürlich wollen wir auch Erwerbsfähigkeit erhalten oder neu gewinnen.

 

Um diese Ziele zu realisieren, braucht es eine lebendige Selbsthilfe, in der wir uns persönlich wohlfühlen, die unsere Alltagsthemen und Nöte auf den Tisch bringt, die Menschen neugierig macht und einlädt, die neue Hoffnung vermittelt. Meine These lautet: Wenn wir die richtigen Qualitätsmerkmale für unsere Selbsthilfegruppen und -Verbände finden, haben wir schon die halbe Miete in der Tasche.

 

 

 

Bevor ich zur Sache komme, noch zwei Vorbemerkungen:

1. Es geht mir nicht um Kommunikationsformen über die digitalen Medien, um Internet und Facebook. Diese haben zweifellos ihre Bedeutung in einer zeitgemäßen Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere um jüngere Menschen zu erreichen. Aber sie sind nur ergänzende Werkzeuge. sie entscheiden letztlich weder über die Qualität unserer persönlichen Suchtbewältigung noch über die einer Selbsthilfegruppe oder eines Verbandes.

 

2. Die Entscheidung über die Qualität der Selbsthilfe fällt auch nicht bei den Fachdiensten oder wie die Kooperation miteinander gelingt.

Wenn sie gelingt, dann sind wir von Herzen dankbar und niemand möchte sie missen. Diese Kooperation ist ein wichtiges, aber dennoch nicht entscheidendes Thema.

Für den Kostenträger Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV BW) ist es erklärtes Ziel, die Kooperation zwischen Selbsthilfe und Fachdiensten zu intensivieren, um die Patienten im Sinn der Nachsorge zu stabilisieren.

 

Doch in der Praxis sieht das leider manchmal anders aus, denn viele Beratungsstellen und Fachkliniken sind aufgrund der enger gewordenen Rahmenbedingungen so sehr mit sich selbst, der Erfüllung vorgegebener Standards und ihrem wirtschaftlichen Überleben beschäftigt, dass sie die Selbsthilfe nur noch peripher im Blick haben. Und ich kenne manchen Therapeuten, der an dieser Situation auch persönlich leidet.

 

Meine Schlussfolgerung ist, dass wir als Selbsthilfe dort kooperieren, wo es gewollt und möglich ist, dass wir uns in unserer Erwartung aber unabhängig machen von den Fachdiensten, denn DIESE werden nicht für unseren Nachwuchs sorgen können.

Solange wir dieser Tatsache hinterher trauern und die Hauptamtlichen „anjammern“, bleiben wir in eigenen Abhängigkeitsstrukturen kleben und schwächen uns selbst. Durch eine latente Vorwurfshaltung rauben wir uns letztlich selbst die Kraft.

 

 

 

Genug der Vor-Überlegungen. Ich schlage sieben Qualitätsmerkmale für unsere Selbsthilfe vor, von denen ich mir persönliche Gesundung genauso verspreche wie eine gesunde Gruppen- und Verbandskultur.

 

1. Die Beziehungsebene muss stimmen

Wir müssen uns nicht in allem einig sein, wir dürfen uns durchaus auch mal zoffen. Aber in der Mehrzahl der Begegnungen sollten wir einander gelassen in die Augen schauen können. Wir müssen uns nicht um den Hals fallen, aber gegenseitiger Respekt muss sein. Dies ist eine permanente Herausforderung sowohl im Privaten wie innerhalb der Selbsthilfe und auch gegenüber den Fachdiensten. Denn die Beziehungsebene entscheidet letztlich über Funktionieren und Qualität jeglichen Miteinanders.

 

Herr Seiter, Direktor der DRV BW und erklärter Unterstützer der Suchtselbsthilfe, meinte in seinem Grußwort beim Württemberger Treffen der Freundeskreise im Jahr 2011, dass angesichts der zunehmenden Bedeutung technischer Medien die zwischenmenschliche Begegnung und Beziehung nicht ersetzt werden könne, denn Selbsthilfe funktioniere nur dort, wo die Menschen sich kennen. DAS kann ich nur unterstreichen.

 

 

2. Ehrenamtliches Engagement muss grundsätzlich Freude machen

Freude wirkt wie ein kraftvoller Motor. Mit Freude geht einfach was. Ohne Freude dagegen ist alles mühsam und zäh. Wer Freude bei seinem Tun hat, verfügt über ausreichend Energie, um auch schwierige Etappen zu meistern.

Natürlich müssen wir uns auch durch schwierige Zeiten durchbeißen, natürlich gehört auch Frust zum Leben, aber dennoch gilt: Ehrenamtliches Engagement muss grundsätzlich Freude machen.

Aber bitte nicht verbissen und pflichtbewusst vom Kopf her: „JETZT muss aber Freude her und wehe dem, der mich daran hindert.“ Ich meine vielmehr diese Freude von innen heraus: „DAS ist meins, da steckt mein Herz drin, das inspiriert mich, da fühle ich Gänsehaut, da spüre ich Flügel.“

 

Falls Freudelosigkeit zum Dauerzustand geworden ist, sollte der Betreffende sich prüfen und eine Entscheidung treffen: Entweder er sorgt für Veränderung in seinem Alltag, damit neue Freude aufkommen kann; oder er legt sein Amt nieder und beendet sein ehrenamtliches Engagement in Verantwortung für sich selbst und in Verantwortung für die Gemeinschaft. Das ist immer noch verantwortlicher als schlechte Stimmung zu verbreiten und anderen die Motivation zu nehmen – und ihnen damit zum Bremsklotz zu werden.

 

 

3. Tue dir selbst, deiner Familie und deiner Selbsthilfegemeinschaft Gutes

Der erste Grund, warum jemand in die Selbsthilfe kommt, lautet: Ich will mit meinem Leben wieder zurechtkommen. ALLES andere kommt danach.

In der Selbsthilfe geht es darum, was dem Betroffenen dient. Und seiner Partnerschaft. Und seiner Familie. Und seiner Gruppe.

Die Frage ist nicht, ob wir in der SH „zeitgemäß“ unterwegs sind, ob wir konform mit der öffentlichen Meinung oder Fachwelt gehen – wie wir in der Öffentlichkeit möglichst professionell auftreten – wie wir Fördergelder und Spendenmittel einwerben, um möglichst viel Geld in der Kasse zu haben – wie wir die Erwartungen dieser und jener zufrieden stellen.

Vielmehr ist entscheidend, dass wir lernen, liebevoll mit uns selbst und mit anderen umzugehen, um die kommenden Wochen und Jahre gut, abstinent und clean unterwegs sind, zusammen mit den uns anvertrauten Menschen. Dann haben wir einen guten inneren Zusammenhalt, dann haben wir auch eine Ausstrahlung nach außen.

 

 

4. Teile, was du bekommen hast, dann wird sich dein Gewinn vermehren

DAS war die Dynamik der ersten Freundeskreisgruppen anno 1956, das gilt bis heute: Miteinander unterwegs sein und teilen, was man hat. Das sind z. B. Tischgemeinschaften über alle sozialen und beruflichen Grenzen hinweg, Fahrtgemeinschaften, Hilfe in Not, gegenseitige finanzielle Unterstützung – heute sagt man auch ‚Spenden‘ dazu – das ist Zeit und Manpower in praktischen Dingen beim Kohlen schleppen oder Grillfeste organisieren, oder ... ich wüsste gerne, wie viele Wohnungsumzüge durch Arbeitstrupps aus den Selbsthilfegruppen bewältigt worden sind. Ich wette, eine ganze Menge.

Durch dieses Teilen bekommt jeder ausreichend für sein Leben, durchs Teilen entwickeln sich unsere Gemeinschaften als Ganzes und werden zur Heimat für den Einzelnen.

 

„Teile, was du bekommen hast, dann wird sich dein Gewinn vermehren“. Das ist übrigens ein biblisches Prinzip (Bibel, Prophet Maleachi 3.10/AT). Ich habe diese Wahrheit persönlich schon oft erlebt. Wer sie erfahren möchte, praktiziere das Teilen über einen längeren Zeitraum. Aber VORSICHT: Beim Teilen ist die Währung des Einsatzes nicht unbedingt identisch mit der Währung des Gewinns. Dieser kommt oft über eine ganz andere Schiene zurück.

 

 

5. Bekenne dich zu deinem/eurem Suchtthema

Wer sich offen zu seinem Suchtthema bekennt, beendet ein zermürbendes Versteckspiel, lässt frische Luft und neue Klarheit in sein Leben und hat bessere Chancen für eine stabile Krankheitsbewältigung. Wer sich bekennt, kann unbefangener leben und seine Mitmenschen wissen, wie sie mit ihm dran sind. Er hat gelegentlich zwar mehr Konflikte, weil er unbequem ist, doch er wird wieder handlungsfähig.

 

Das Bekenntnis zur Suchterkrankung hat viele positive Auswirkungen für den Einzelnen wie auch für unsere Gemeinschaften: Es ist Selbstschutz und Festigung der Abstinenz, es stärkt die Persönlichkeit, es ermutigt für Mitarbeiter- und Leitungsaufgaben, es ist gelebte Öffentlichkeitsarbeit und hilft dem Nachbarn und Kollegen, sich irgendwann der eigenen Not zu stellen und Hilfe anzunehmen.

 

 

6. Selbsthilfe ist eine Erzählkultur, eine ‚Erzählgemeinschaft’ (Rolf Hüllinghorst)

Das Geheimnis eines gelingenden Gruppenabends liegt nicht im Diskutieren, im Andere-überzeugen-wollen, rhetorisch-besser-sein, Interessen-durchsetzen, bessere-Argumente-haben oder andere-belehren. Vielmehr geht es darum, sich gegenseitig zu erzählen, was man erlebt hat, was einen beschäftigt, wie man mit diesem und jenem zurechtkommt – oder auch nicht. Erzählgemeinschaft bedeutet: Ich erzähle von mir, du von dir, und jeder nimmt sich vom andern das, was er brauchen kann. In großer Freiheit und Eigenverantwortung.

Für diese Erzählgemeinschaft empfehle ich ein Verhältnis von 2x hinhören und 1x erzählen nach der Volksweisheit „Gott hat schon gewusst, warum er uns zwei Ohren und nur einen Mund gegeben hat“. Dieses Verhältnis ist auch hilfreich für unsere Partnerbeziehungen.

 

Um diese Erzählgemeinschaft leben zu können, brauchen wir eine Haltung der Neugierde und Lernbereitschaft. Und das auch dann noch, wenn du schon 15 oder 20 Jahre trocken und dabei bist. Und auch dann, wenn du bald 70 Jahre alt wirst. Wer – im Gegensatz dazu – mit der Haltung des „Wissenden“ in der Gruppe sitzt, der hört nicht mehr richtig zu, weil er eh schon alles weiß. Und wer nicht mehr richtig zuhört, kann auf andere nicht mehr richtig eingehen – und damit blockiert er die Offenheit und den Austausch in der Gruppe.

 

 

7. Als Freunde und Weggefährten kümmern wir uns umeinander – wir gehen einander nach, wir sind einander anvertraut

Das Wohl des andern war von Beginn an zentrales Anliegen der Freundeskreise. Wenn da einer gefehlt hat in der Runde, wurde nachgefragt, wo er denn geblieben war. Und da wurden unzählige Hausbesuche gemacht. Das ging so weit, dass unser Gründervater Karl Votteler von Reutlingen am Freitagabend zu einem ganz bestimmten Fabriktor ging, weil dort ein Freund aus der Gruppe mit gefüllten Lohntüte rauskommen würde. Und dieser Freund war neu in der Gruppe und noch nicht stabil in Sachen Abstinenz. Als dieser Freund dann durch das Fabriktor kam, bekam sein gewohnter Freitagabend-Weg plötzlich einen Knick, denn am Karl kam er nicht vorbei. Und wo er bisher nach links abgebogen war zur nächsten Kneipe und dort seine Lohntüte erleichterte, musste er jetzt dank Karl nach rechts abbiegen. Und gemeinsam gingen sie heim zur Familie dieses Freundes. Und die Frau wusste, dass sie die kommende Woche NICHT am Hungertuch nagen mussten.

 

Es gibt eine Haltung in der Selbsthilfe, die mir gelegentlich begegnet und große Sorge bereitet. Es ist die Haltung: „Wer was will, soll sich melden, der soll selbst kommen. Er weiß ja, wo wir zu finden sind.“

Das mag ja etwas Richtiges dran sein, aber ich karikiere mal, um deutlich zu machen, um was es mir geht. Im Umkehrschluss hört sich das nämlich SO an: „Wer sich nicht meldet oder einfach wegbleibt, ist selbst schuld. Wer nicht will, der hat gehabt. Dem laufe ICH doch nicht hinterher. Wer nicht will, hat schon gehabt.“

Freunde, DAS ist nicht unseres, unser Selbstverständnis ist anders.

 

Freundschaft ist ein Bund, den wir miteinander geschlossen haben. Sie bedeutet Fürsorge und Schutzraum durch gegenseitige Unterstützung; sie gibt menschliche Nähe, sie bedeutet Ergänzung und Bereicherung durch die Vielfalt der Persönlichkeiten, der Begabungen, der Altersgruppen, der Kulturen und Nationalitäten. Und ein Kreis von Freunden ist auch fähig, neue Gesichter willkommen zu heißen und zu integrieren. DAS ist die Philosophie der Freundeskreise, das ist unser Erfolgsrezept, Freundschaft ganz praktisch. Das benötigen wir ALLE.

 

Freunde gehen einander nach – deshalb brauchen wir Teams, weil einer allein sich nicht um alle kümmern kann. Deshalb machen wir Ausbildungen zum Gruppenbegleiter, zum freiwilligen Suchtkrankenhelfer u. a., um uns zu schulen, „WIE“ wir das richtig machen können, dieses einander-nachgehen.

 

Diese Qualitätsmerkmale sind das Gegenprogramm zur gesellschaftlichen Zersplitterung und Auflösung. Wenn wir DAS leben, schaffen wir Inseln und Oasen, wo Gesundung für den Einzelnen möglich wird. Inseln und Oasen, wo unsere Gemeinschaften Schutzräume, Sicherheit und Orientierung fürs Leben bieten.

 

Ich bin überzeugt, dass die Verwirklichung dieser Qualitätsmerkmale für die Zukunft unserer Selbsthilfe viel entscheidender ist als demografische Entwicklungen, als gekürzte Therapiekonzepte, als Finanzfragen oder die altersmäßige Zusammensetzung unserer Gruppen. Wenn wir diese Qualitätsmerkmale leben, habe ich viel Hoffnung für die Zukunft unserer Selbsthilfegemeinschaften.

Rainer Breuninger

Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe, Landesverband Württemberg e.V.

 

 

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